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Chronisch krankes Pferd: Der erste Schritt zurück zur Freude

Wir können immer kämpfen. Aber können wir auch gewinnen?

Und wenn ja – was?

Gedanken zum Thema Aufgeben. Für den Fall, dass du dich gerade an Ziele mit deinem Pferd klammerst, die nicht (mehr) zu erreichen sind. Weil dein Pferd (chronisch) krank ist.
 
 

Ein paar Jahre vor Nathans Diagnose

Sommersemester 2016. Zweite Woche, zweites Semester, zweite Vorlesung des Tages im BWL-Studium. Irgendwas mit Recht, wir sollen uns das HGB zulegen. Ich schaue zum Prof, zu dem Gesetzestext in seiner Hand, auf diese ganze Situation, zu der ich mich entschieden habe und mir wird etwas klar.

Ich kann sitzen bleiben und kämpfen. Mich durch Statistik und Wirtschaftslehre ackern, weil das hilfreich sein könnte, wenn man sein Leben nicht in einem 9-to-5 Job verbringen will. Oder…

Oder ich kann aufstehen. Gehen. Aufgeben.

Sechs Jahre später verstehe ich, dass Aufgeben in einer Gesellschaft, die uns Durchbeißen schätzen lehrt, eine Schlüsselfähigkeit ist.
 
 

Wir lernen die Insel kennen

Juli, 2022. Nathan bekommt die Diagnose PSSM2*. Eine gute Freundin geht mit ihrer Stute durch eine schlimme Zeit. Und in unserer Arbeit begegnen uns (chronisch) kranke Pferde, die einfach nicht mehr das leisten können, was sie eigentlich in ihrem Alter noch können sollten.

Wir sprechen auf Instagram über Nathans Krankheit und unsere sensiblen Seelen fiebern mit, fühlen mit und erzählen von ihren Erfahrungen.

Und mir wird klar: Ich bin gar nicht traurig. Oder ängstlich. Nicht außerordentlich besorgt. Ich fühle mich nicht, als hätten wir etwas verloren.

Da ist Erleichterung und eine unserer sensiblen Seelen beschreibt es so:

„Es ist, als wäre man schon lange auf einer Insel, irrt unwissend umher und dann bekommt man die Diagnose und weiß endlich, wie die Gegebenheiten auf dieser Insel sind. Und damit kann man umgehen.“

So geht es uns. Wir wissen endlich, womit wir es auf dieser Insel von Nathan wirklich zu tun haben. Und wir können etwas tun.

Anderen geht es anders. Da ist Traurigkeit, Enttäuschung. Verlust.

Erst frage ich mich, ob mit uns irgendwas nicht stimmt. Müssten wir uns nicht schlechter fühlen? Nicht trauriger sein?

Aber dann wird mir klar, weshalb Jana und ich nicht so fühlen.

Wir haben unsere Träume und Wünsche mit Nathan schon vor langer Zeit aufgegeben. Vor vielen vielen Jahren, als wir das erste Mal bemerkt haben, dass er anders ist als andere Pferde. Dass er nicht will. Dass ihm nicht gefällt, was wir uns mit ihm vorstellen.

Und wie das mit den Träumen ist, die wir loslassen, machen sie Platz für anderes.

Wir haben unsere Art gefunden, miteinander Zeit zu verbringen. Und auch wenn wir die Möglichkeit und Neugier nie aufgegeben haben, dass es vielleicht doch einen Weg zum Reiten geben könnte – einen Weg für Nathan und uns – ist das doch kein Traum mehr. Keine Vision, die uns antreibt. Nur eine Möglichkeit. Wie einer von zehn Kuchen auf einem Buffet. Wir können einfach an anderer Stelle zugreifen.

*PSSM2 = Polysaccharid-Speicher-Myopathie Typ 2 ist ein Sammelbegriff für genetisch bedingte Muskelerkrankungen beim Pferd

Weitere Infos findest du hier.
 
 

Wenn früher aufgeben besser ist

Es hat Jahre gedauert, bis wir auf die Diagnose PSSM2 gestoßen sind. Ich bin froh, dass wir so früh aufgegeben haben, Ziele zu verfolgen, die Nathan nicht erreichen konnte. Vielleicht nie wird erreichen können. Ich bin froh, dass wir nicht gekämpft haben.

Aber ich weiß auch, dass das für dich nicht unbedingt so leicht ist, wie es für uns war.

Und ich glaube, das liegt auch daran, worüber wir in unserer Gesellschaft sprechen. Was wir gelehrt bekommen. Und was nicht.
 

„Du musst nur hart genug arbeiten oder fest genug wünschen – dann kann alles möglich werden“

 
Wir sprechen zu viel darüber, wie wichtig es ist, durchzuziehen, was man sich vornimmt. Zu viel über die Ziele, die wir uns setzen. Und darüber, dass wir sie erreichen. Wir kämpfen. Viel.

Aber niemand hat mir je gesagt, dass Aufgeben eine Fähigkeit ist.

Deshalb lass uns das einmal klarstellen:
 

Aufgeben ist eine Fähigkeit.

 
Deine Ziele bewusst aufgeben, das Handtuch werfen, aufstehen und gehen – das ist eine Fähigkeit, die wir ebenso brauchen wie die Fähigkeit zu kämpfen und durchzuhalten.

Vielleicht schätzt du dich entweder als Menschen ein, der immer viel zu früh aufgibt. Nie durchhält. Wegläuft. Oder du bist einfach jemand, der sich durch alles durchbeißt. Nicht locker lässt, bis du einen Weg gefunden hast.

Oft denken wir, dass das eine besser und das andere schlechter wäre.

Aber beides sind nur Arten, unsere Kontrollillusion aufrechtzuerhalten.

1. Wenn ich aufgebe, habe ich mich immerhin selbst dazu entschieden. Dann kann mir nicht genommen werden, was ich eigentlich gern erreicht hätte. „So wichtig ist mir das eigentlich gar nicht…“ Es scheint paradox – aber keine Kontrolle auszuüben, dich nicht für etwas anzustrengen, nicht alles für ein Ergebnis geben zu wollen IST eine Form, sich in der Welt als wirksam zu erleben!

2. Wenn ich dranbleibe, immer weiter mache, dann werde ich es auch schaffen. Dann kann ich das Ergebnis kontrollieren. Aufgeben ist Schwäche und beweist, dass ich in der Welt nicht wirksam bin und das darf einfach nicht sein.

Beides ist ein Irrtum. Eine Illusion.
 
 

Achtung: Kontrollverlust!

Wir haben immer nur ein bestimmtes Maß an Kontrolle.

Manche Träume sind nicht dafür gemacht, gelebt zu werden. Manche Wünsche werden niemals wahr. Es gibt Ziele, die KANNST du nicht erreichen.

Das Leben wird dich zwingen, dich zu verändern. Und aufzugeben.

Du wirst dich entwickeln. Und etwas aufgeben wollen.

Etwas wird zu eng. Und du schaffst Platz für Neues.

Dein Pferd wird chronisch krank. Dein Pferd wird unreitbar.

Du erkennst, dass du viel mehr das Gefühl hast reiten zu müssen, als es selber zu wollen.

Wie viele Tage, Wochen, Monate verbringen wir mit einem aussichtslosen Kämpfen?
 
 

Keine Kontrolle, aber immerhin zwei Werkzeuge

Aufgeben und Durchhalten – zwei Fähigkeiten, die sich ergänzen müssen. Was du brauchst, um durch dieses Leben zu navigieren: Bewusstsein. Bewusstsein über die Frage, was sich gerade zu tun lohnt.

✍️ Was ist gerade jetzt die Fähigkeit, die du brauchst?

✍️ Ist das ein Traum, der erreichbar ist, den du erreichen willst und für den der Kampf sich lohnt?

Oder ist das ein unerreichbares Ziel? Eine alte Wunschvorstellung, die nicht realisiert werden kann? Oder ist diese Vorstellung auch einfach nicht wert, dafür zu kämpfen?

Wir müssen abwägen. Und aufhören, Durchhalten zu idealisieren, während wir Aufgeben verteufeln.

Träume (zwangsweise) aufzugeben ist an sich schwer und schmerzhaft genug. Da brauchen wir nicht auch noch das schlechte Gewissen oder den Druck, es doch immer weiter versuchen zu müssen.

Ich wünsche dir in all diesen Momenten, dass du WEISST, dass Aufgeben eine starke Fähigkeit ist. Dass Aufgeben bewusst und zielgerichtet geschehen kann. Dass Durchhalten nichts in sich gutes ist (weil es ein Opfer für die falschen Ziele) und dass Aufgeben nichts in sich schlechtes ist (weil es ein Schritt in eine neue Art zu leben sein kann).
 
 

Was wir wirklich verlieren, während wir zu kontrollieren versuchen

Mit jedem Tag, den du dafür arbeitest, mit deinem Pferd unerreichbare Ziele doch zu erreichen, verlierst du. Verlierst du Zeit, die du mit deinem Pferd genießen könntest.

Mit jedem Tag, den du dich den Vorstellungen anderer unterwirfst und tust, was du „tun musst“ (weil andere diese Erwartung haben), verlierst du. Verlierst du Zeit, in der du du selbst sein und DEIN Leben leben könntest.

Wir können gegen die Realität ankämpfen. Aber wir können nicht gegen sie gewinnen.

Gewinnen können wir nur, wenn wir uns im Rahmen dessen bewegen, was gerade für uns möglich ist. Mit dem Wissen, den Mitteln, den Fähigkeiten und der Unterstützung, die wir haben.

Wir können diese Vorteile ausbauen und dadurch verändern, was in Zukunft für uns möglich sein wird. Aber auch diese realen Möglichkeiten sind begrenzt.
 
 

Der erste Schritt zurück zur Freude mit deinem Pferd

Manches müssen wir akzeptieren. Manches sollten wir nicht akzeptieren. Die Kunst ist herauszufinden, was wann der Fall ist. Und es gut sein zu lassen, wenn es ein aussichtsloser Kampf ist.

Denn ich bin ziemlich sicher: Während du noch kämpfst und hoffst und einem alten Traum nachhängst, wartet dein Pferd auf dich. Es ist vielleicht krank. Aber es ist auch bereit, sein bestes, erfülltes Leben an deiner Seite zu führen. Sein bestes, erfülltes Leben mit viel Zufriedenheit, und Freude, und ja, auch Krankheit darin.

Dein Pferd, das seinen Humor nicht verloren hat und einfach auf dieser Welt IST und auf dich wartet. Bis du bereit bist. Bis du bereit bist aufzugeben. Nicht den Kampf dafür, so gut es geht mit der Krankheit zu leben – sondern den Kampf, trotz dieser Krankheit (eurer Realität) deine alten Träume mit deinem Pferd wahr werden zu lassen.

Manchmal zwingt uns das Leben, uns zu verändern.
 

Manchmal ist Aufgeben das mutigste und stärkste, das wir tun können.

 
Und oft ist Aufgeben genau das, was es braucht, damit wir endlich wieder Zufriedenheit und Freude und Glück spüren können.

Wann immer du bereit bist ❤️.
 

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3 Comments


Miriam
18. Juli 2022 at 11:04
Reply

Ach ihr schafft es immer wieder mich zu berühren. Es ist so viel wahres und irgendwo trotzdem schmerzhaftes und gleichzeitig erleichterndes in dem Artikel.
Danke


    Anni
    24. Juli 2022 at 10:09
    Reply

    Danke für deine lieben Worte, Miriam! Es freut mich, dass der Artikel dich berührt hat ❤️.

Yvonne Lipponer
20. November 2022 at 18:29
Reply

Danke für diesen Artikel. Ich bin so traurig, weil es meinen beiden Pferden nicht gut geht., und ich, zumindest bei dem Einen, nicht weiß was los ist.
Es geht mir nicht darum, ob ich reiten kann oder nicht.
Alles ist im Moment sehr schwierig.
Liebe Grüße Yvonne


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