Dieser Artikel beantwortet folgende Fragen:
- Was ist Dissoziation?
- Was bedeutet Dissoziation für fehlende Motivation?
- Wie entsteht Dissoziation beim Pferd und wie erkenne ich sie?
- Wie kann ich meinem Pferd helfen?
Ich sitze beim Arzt. Es ist an der Zeit, nachdem ich mich seit Jahren vegetarisch und nun immer mehr vegan ernähre, um mich diesem eigentlich völlig unspektakulären Pickser zu stellen und meinen B12-Wert testen zu lassen. Ich starre aus dem Fenster, hinter dem leider nichts weiter zu sehen ist als ein winziger Ausschnitt des Gartens hinter der Arztpraxis. Es wird gerade Herbst. Das kleine Stückchen sichtbarer Himmel ist grau, die grünen Blätter der Büsche wirken irgendwie farblos.
Also träume ich mich weg, während die Arzthelferin mit Röhrchen, Tupfern und Nadeln hantiert. Uaahh. Denke an unsere bevorstehende Portugalreise, die mich zwar auch in Nervosität versetzt, aber diese Nervosität ist wenigstens nicht so akut wie die vor der anstehenden Blutabnahme.
Was ist Dissoziation?
Ein tieferes Verständnis für den Begriff der Dissoziation habe ich das erste Mal durch Karla McLarens Buch “The Language of Emotion” erlangt, das ich vor der Erstellung unseres Onlinekurses “mit mir im dialog“ gelesen habe. Sie beschreibt Dissociation (Absonderung, Trennung, Abspaltung) und Distraction (Ablenkung) als Survival Skills, die uns dazu dienen, mit Überforderung zurechtzukommen.
Und so möchte auch ich den Begriff der Dissoziation heute nicht im Sinne psychischer Störungen sondern im Sinne einer Coping-Strategie (Coping = Bewältigung) nutzen. Wie durch eine “mentale Flucht” können wir uns vor einer Erfahrung schützen, indem wir einen Teil unseres Bewusstsein, des Gedächtnisses, unserer Identität oder der Wahrnehmung unserer Umwelt von uns loslösen.
Positive dissoziative Zustände können z.B. im Erleben von Flow bestehen, wenn wir vollkommen in einer Tätigkeit aufgehen und dabei Raum und Zeit vergessen und unser körperliches Empfinden in den Hintergrund rückt. Wir sind nunmehr nur ein kleiner Teil unseres Selbst. Jener Teil, der gerade diese Handlung ausführt als würde er das immerzu mit vollkommener Selbstverständlichkeit tun. Auch Pferd erleben Flow, zum Beispiel im Spiel oder auch im Training mit dem Menschen.
So ähnlich ist das auch mit Dissoziationen, die uns dazu dienen, mit schwierig oder kaum zu ertragenden Erfahrungen umzugehen. Indem wir einen Teil von uns abspalten, befindet sich dieser Teil in Sicherheit, während ein anderer Teil in der Situation verbleibt. So wie ich mich von der kaum belastenden Erfahrung des Blutabnehmens abgelenkt habe, indem ich meine Gedanken an einen anderen Ort wandern ließ, so kann sich bei dissoziativen Zuständen ein Abstand zwischen Körper und Geist einstellen.
Fallbeispiel: Dissoziation beim Pferd
Das erste Mal kam mir der Gedanke, dass Dissoziation auch beim Pferd ein Thema sein könnte, als ich Folgendes beobachtete.
Wir befanden uns in der Unterrichtsstunde mit einer Schülerin, deren Stute keine leichte Vergangenheit hat. Bevor sie bei ihrer jetzigen Besitzerin ein Zuhause fand, ging sie durch viele Hände. Eines unserer Themen im Unterricht war das Wiedererlangen ihrer Motivation, des Interesses am Training und die Offenheit gegenüber Vorschlägen des Menschen.
In diesem Artikel schreiben wir über eine wunderbare Freiarbeitseinheit, die trotz (oder vielmehr dank) des Grases ein wahrer Durchbruch für die beiden war. Was genau passiert ist, kannst du hier nachlesen: Carina, Latte und die Freiarbeit
Dabei arbeiten wir gern daran, die Kommunikation zwischen Mensch und Pferd auf einer ganz subtilen Ebene neu aufzubauen, indem wir winzige Reaktionen des Pferdes auf die kleinstmöglichen Anfragen des Menschen bestärken. Vielen Pferden hilft das, um den Menschen aus einer ganz neuen Perspektive wahrzunehmen und Neugier zu entwickeln.
Bei dieser Stute war das Gegenteil der Fall – sobald man nur eine ganz kleine Anfrage stellte oder sie für kleine Reaktionen und Bewegungen ihres Körpers clickte, kehrte sich ihr Blick entweder nach innen oder sie begann, in die Ferne zu starren. Manchmal schien sie fast innerhalb von Sekunden wegzudämmern.
Das passierte nahezu immer, sobald wir im Stand an kleineren Aufgaben werkeln wollten.
Es fiel mir deshalb so stark auf, weil dieses Verhalten einen enormen Kontrast zu ihrem Verhalten bildete, wenn es darum ging, mit externen Objekten zu interagieren. Sie lernte innerhalb von wenigen Minuten, dass die Gymnastikmatte ein toller Platz ist, um darauf zu stehen und mit Gewichtsverlagerungen zu spielen. Es dauerte keine halbe Einheit, bis sie über die Wippe kletterte. Sie folgte der Poolnudel mit Begeisterung.
Aber sobald wir mit der Poolnudel im Stand an der Berührung mit dem Bein arbeiten wollten, machte sie dicht. Als würde sie einschlafen.
Doch ich glaube, dass dieses “Einschlafen” nicht viel mit Müdigkeit zu tun hatte. Ich denke, dass es sich dabei um eine Art der Dissoziation handelte – als würde sie ihrem Körper mental entfliehen.
Ein neuer Blick auf “fehlende Motivation”
Diese Beobachtung verschaffte mir einen ganz neuen Blick auf das Thema Motivation und Interesse im Pferdetraining: Was, wenn wir es oft gar nicht mit demotivierten Pferden zu tun hätten, die kein Interesse am Training haben? Was, wenn diese Pferde häufig nicht träge oder faul oder triebig wären?
Was, wenn es sich stattdessen um einen Bewältigungsmechanismus handelt, den manche Pferde entwickeln, um mit traumatischen Trainingserfahrungen fertigzuwerden?
Wir müssten wohl unsere gesamte Herangehensweise überdenken.
Wie entsteht Dissoziation beim Pferd?
So vieles sich in der Pferdewelt positiv entwickelt hat, unzählige Ausbildungsmethoden können sich auch heute noch traumatisch auf unsere Pferde auswirken, z.B. wenn ihnen die Möglichkeit zur Flucht genommen wird oder sie mit roher Gewalt zum Gehorsam gebracht werden. Oft machen sie diese Erfahrungen von Kontrollverlust, Hilflosigkeit und Bedrohung außerdem schon in jungen Jahren, damit sie erst gar nicht die Kraft und das Selbstvertrauen entwickeln, welches sie brauchen würden, um sich gegen den Menschen zu wenden.
Mit diesen traumatisierenden Erfahrungen müssen unsere Pferde umgehen – und eine Möglichkeit dazu besteht für sie vielleicht in der Dissoziation. Indem sie ihrem Körper entfliehen, indem sie sich auf etwas außerhalb ihrer selbst fokussieren oder indem sie sich ganz tief in sich selbst zurückziehen – dorthin, wo sie geschützt sind vor der akuten Bedrohung.
Macht das Pferd nun wiederholt solche traumatisierenden Erfahrungen, so sollte sich dieser Bewältigungsmechanismus der Dissoziation immer leichter einstellen. Immer niedrigschwelligere Auslöser werden das Pferd dazu veranlassen, Körper und Geist voneinander zu trennen.
Wie erkenne ich Dissoziation beim Pferd?
Da ich leider keine Quellen zu dieser Frage finden konnte, geben die folgenden Punkte nur meine Gedanken wieder. Schreibe mir gern, wenn du Beobachtungen zu diesem Thema gemacht hast.
Um Dissoziation beim Pferd zu erkennen, achte ich auf Verhaltensweisen, die mir ungewöhnlich erscheinen, weil sie nicht zum Kontext passen oder in spezifischen Situationen gehäuft auftreten.
Folgende Verhaltensweisen konnte ich bisher beobachten:
- plötzliches Wegdösen, obwohl das Pferd zuvor keine Anzeichen von Müdigkeit gezeigt hat
- Wegdrehen
- bei der Freiarbeit am Rand fressen gehen
- den Kopf sehr intensiv am Vorderbein reiben
- in die Ferne starren, obwohl es das ansonsten nicht in dieser Intensität/Häufigkeit tut und es auch keinen akuten Anlass dazu gibt
- fehlende Reaktion auf vom Menschen stammende Reize, „einfrieren“
- in sich gekehrter oder ins Leere gehender Blick
Auf Instagram bekam ich außerdem den Hinweis, dass auch Balanceprobleme, schlechtes Körpergefühl, Koordinationsprobleme und Schwierigkeiten mit der Motorik Hinweise auf Dissoziation sein können.
Wie kann ich meinem Pferd helfen?
Um dem Pferd zu helfen, sollten wir zuerst einmal verstehen, dass es sich bei diesem Verhalten um eine Coping-Strategie handelt – für das Pferd ist dieses “mentale Wegbeamen” eine Möglichkeit, um mit bedrohlichen Situationen umzugehen. Ärger oder Ungeduld ist an dieser Stelle nicht angebracht.
Versuche, die Auslöser zu identifizieren. Finde heraus, in welchen Momenten die Dissoziation auftritt. Was ist davor abgelaufen? Wie hast du dich deinem Pferd gegenüber verhalten? Was war die Aufgabe?
Das Ziel ist es, das Training so zu gestalten, dass dein Pferd sich möglichst sicher damit fühlt, ganz im Hier und Jetzt und in seinem Körper anwesend zu sein. Das wiederum bedeutet je nach Auslöser sehr unterschiedliche Strategien. Vielleicht helfen dir auch folgende Blogartikel dabei:
- Wie aus Erwartungen Probleme werden und was dir dagegen tun können
- Wenn Pferde nicht wollen: Widersetzlichkeiten bei Alltagsaufgaben
- Empowerment – Kontrolle ans Pferd
- Gefühlswelten: Positive Verstärkung gleich positive Emotionen?
Wenn du die Auslöser identifiziert hast, kannst du sie zuerst einmal aus dem Training entfernen. Gib deinem Pferd Zeit, um sich ganz auf das Zusammensein mit dem Menschen einzulassen und Vertrauen in dich und in sich selbst aufzubauen.
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2 Comments
Und gerade musste ich bei jedem Wort in dem Artikel an meine Pina denken. Danke für diesen neuen Blickwinkel und ich muss hier wohl noch genauer hinschauen, was genau sie eigentlich so stresst.
Liebe Grüße
Miriam
Wie schön, dass ich dir einen neuen Blickwinkel zeigen konnte. Ich hoffe, das hilft dir weiter, damit der Stress bald in innere Ruhe übergehen kann.
Liebe Grüße
Anni