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„Du musst dich durchsetzen!“ – Über sinnvolle und toxische Fähigkeiten im sanften Pferdetraining

 
Wenn ich außerhalb unserer Bubble schaue, in der es normal ist, Pferde als Individuen mit Bedürfnissen und Emotionen zu sehen und ihnen (so gut es eben geht) auf Augenhöhe zu begegnen, ihnen eine Meinung zuzugestehen und sie nicht nur als Mittel zum Zweck zu betrachten, dann fällt mir unweigerlich auf, dass Durchsetzungsfähigkeit oft ganz oben auf der Liste der Fähigkeiten steht, die Menschen im Umgang mit Pferden entwickeln. Nicht die Fähigkeit, sich einzufühlen, sich anzupassen oder vielleicht zu überzeugen, sondern seinen Standpunkt und den eigenen Willen durchzusetzen.

Und selbst in dieser Bubble der sanften und sensiblen Pferdemenschen ist es schwer, sich dem Einfluss der gängigen Vorgehensweise zu entziehen und sich bei Problemen nicht allein darauf zu verlassen, dass man sich ja schlicht gegen das Pferd durchsetzen kann.

Das liegt an den Leitfähigkeiten, die wir von Beginn an entwickeln, wenn wir mit Pferden umgehen.
 
 

Wie wir im Umgang mit Pferden einseitige Fähigkeiten entwickeln

Angenommen, du bist mit deinem Pferd ausreiten. Es bleibt unvermittelt stehen und will partout nicht weitergehen. Du treibst es vorwärts, schnalzt mit der Zunge – deine Hilfen sind eindeutig. Es kann dich nicht missverstehen, doch die Beine deines Pferdes scheinen mit dem Boden verwachsen. Was tust du?

Du reagierst: Emotional, mental und behavioral (= das Verhalten betreffend).

Ein Gefühl entsteht, abhängig von deiner Vorgeschichte mit deinem Pferd, deiner Interpretation der Situation, deines Charakters und deiner gewohnheitsmäßigen emotionalen Reaktionen. Vielleicht ist es Unsicherheit, Angst, Ärger oder Wut. Vielleicht aber auch Interesse oder Mitgefühl.

Gedanken gehen dir durch den Kopf. Du fragst dich, wieso dein Pferd nicht weitergehen will und fast zeitgleich findet dein Gehirn eine Antwort. Dein Pferd ist stur, es hat Angst, es ist müde, es verhält sich dominant oder du hast darin versagt, ihm Sicherheit zu vermitteln.

Gefühl und Gedanke sind eng miteinander verflochten. Sie verstärken sich gegenseitig. Du ärgerst dich über die Sturheit deines Pferdes und im nächsten Moment bist du dir ganz sicher, dass dein Pferd einfach nicht weitergehen will. Und dass du dich nun durchsetzen musst.

Deine Emotion liefert dir die Energie für deine anschließende behaviorale Reaktion. Du tust etwas, um die Situation zu verändern. Du treibst noch vehementer, du setzt die Gerte ein und auch wenn es dir keine Freude bereitet, weil du so eigentlich nicht mit deinem Pferd umgehen möchtest, bist du zumindest erleichtert, als dein Pferd endlich weitergeht.
 
 

Wie sich einseitige Leitfähigkeiten entwickeln

Dieses Muster kann sich in vielen alltäglichen Situationen wiederholen. Dein Pferd möchte den Huf nicht geben – du lehnst dich kräftig gegen die Schulter. Dein Pferd überholt dich – du ruckst am Strick. Dein Pferd will sich nicht einfangen lassen – du treibst es so lange vor dir her, bis es aufgibt.

Deine Fähigkeit durch Widerstand hindurchzugehen entwickelt sich. Deine emotionale Reaktion verläuft immer schneller in den Bahnen von Wut und Ärger ab. Diese Emotionen liefern die Energie für deine Durchsetzungskraft, sodass du deine Ziele immer schneller erreichen kannst. Der Erfolg, den du mit deinem Verhalten hast, belohnt dich. Für den Moment und solange du dich nicht hinterfragst, fühlt es sich gut an.

Deine Leitfähigkeiten im Umgang mit Pferden sind nun gefestigt: Willensstärke, Durchsetzungsfähigkeit, Souveränität und ein energetisches, starkes Auftreten. Die Pferde ahnen schon bei deinem Anblick, dass mit dir nicht zu spaßen ist.

Du brauchst gar nicht mehr laut und auch nicht besonders grob werden. Deine emotionale Energie arbeitet in dir und lässt dich so selbstsicher auftreten, dass auf Seiten der Pferde nicht mehr viele Fragen offen bleiben.

Das funktioniert gut. Solange, bis du auf ein Pferd triffst, das ebenso willensstark ist, wie du. Oder eines, das von Panik getrieben wird. Oder eines, das deiner Souveränität mit Vorwitzigkeit und engelsgeduldigem Ungehorsam begegnet.
 
 

Das Geschenk des 1. Pferdes

Welche Fähigkeiten dir als Pferdemensch fehlen, merkst du erst, wenn ein Pferd plötzlich nicht mehr “funktioniert”. Wenn es nicht so reagiert, wie die zehn Pferde zuvor. Wenn das Pferd, auf dem du sitzt durch dein energisches Treiben anfängt rückwärts zu gehen. Wenn es sich vor dem Hänger lieber überschlägt als hineinzugehen. Wenn es dir den Huf zwar gibt, aber dann auf drei Beinen mit dir davon hüpft.

Ich glaube, dass wir alle an diesen Punkt kommen können. Ganz gleich, welche Leitfähigkeiten wir im Umgang mit Pferden bisher entwickelt haben – irgendwann kann uns allen ein Pferd begegnen, das anders tickt und das unser ganzes Wissen (oder vielleicht eher unseren Glauben?) über das Wesen der Pferde in Frage stellt.
 

Für unsere Entwicklung als (Pferde)Mensch kann uns kaum etwas besseres passieren.

 
Denn diese Pferde zwingen uns dazu, unsere Leitfähigkeiten zu hinterfragen und neue Fähigkeiten zu entwickeln. Sie lassen uns nur die Möglichkeit, dazu zu lernen oder aufzugeben. Und wenn wir uns dazu entscheiden, nicht aufzugeben, dann entscheiden wir uns dazu, bessere (Pferde)Menschen zu werden.

Letztendlich können wir im Umgang mit Pferden (wie auch im restlichen Leben) alle möglichen Fähigkeiten und Eigenschaften entwickeln. Entscheidend sind nicht die Pferde an sich. Entscheidend ist auch nicht, was genau wir erleben.
 

Entscheidend ist der Anspruch, den wir an unser eigenes Verhalten haben.

 
Entscheidend ist, welche Fähigkeit wir nutzen wollen.

Wenn du an dein eigenes Verhalten den Anspruch stellst, dass es stets die Bedürfnisse und Emotionen anderer im Blick hat, dann wirst du ganz von allein empathischer. Wenn du an dein Verhalten den Anspruch stellst, dass es stets sanft und liebevoll ist, dann wirst du Fähigkeiten entwickeln, die dir das erlauben.

Wahrscheinlich stehen die Einwände in deinem Kopf schon Schlange. “Aber ich kann doch nicht…”, “Aber ich muss doch…”
 
 

Also hier noch zwei Gedanken zum „Nicht Können“ und zum „Müssen“.

 

1. Wenn du nicht kannst – liegt es dann vielleicht daran, dass du nicht weißt wie?
Dann denke dir lieber “Ich kann noch nicht” und suche nach einem Weg zu lernen, was du wissen musst, statt deinen Anspruch (und damit deine Werte) zu ändern.

2. Musst du wirklich?
Ganz sicher? Weißt du zu 100%, dass es keinen anderen Weg gibt?

Vielleicht musst du tatsächlich etwas tun, das gerade noch außerhalb deiner Komfortzone liegt. Vielleicht musst du deinem Pferd tatsächlich vehement Grenzen setzen. Vielleicht musst du dich tatsächlich einmal durchsetzen. Vielleicht musst du tatsächlich deinen Anspruch an Sanftheit in dieser speziellen Situation hinter einem anderen Anspruch anstellen.
 

Aber wenn du das tust, dann tue es, weil DU das willst.

 
Wenn du im Begriff bist, etwas zu tun, das sich falsch anfühlt und der einzige Grund dafür ist, dass andere dir sagen, dass du es tun musst – dann lass es sein. Bleib dir und deinen Werten treu.
 

Finde einen Weg.

 

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