Dieser Artikel befasst sich mit den Fragen:
- Was ist Empowerment und welche Bedeutung hat Macht in diesem Kontext?
- Warum ist Verweigerung eine Grundlage für Empowerment?
- Wie können wir den Empowerment-Prozess schrittweise gestalten?
- Wie sieht unser Empowerment-Prozess in der gymnastizierenden Freiarbeit mit Nathan aus?
Hast du schonmal von dem Rat gehört, dass man Pferde möglichst frühzeitig einreiten sollte? Möglichst so früh, dass sie noch nicht die nötige Kraft und Balance entwickelt haben, um ihren Reiter abzuwerfen? Ganz nach dem Motto „Zeig deinem Pferd, dass du die Kontrolle hast, bevor es überhaupt fähig ist, dich zu kontrollieren“.
Und jetzt komme ich daher, mit einem Text über Empowerment. Mit der Idee, unseren Pferden Kontrolle zurückzugeben. Ihnen Macht über uns zuzugestehen.
Mit dieser Idee befassen wir uns auf Instagram unter dem #empoweryourhorsechallenge schon seit einiger Zeit.
Es ist ein Thema, das mich schon seit Jahren fasziniert, das jedoch in letzter Zeit etwas in den Hintergrund unserer Arbeit mit Nathan gerückt ist. Während wir den Fokus auf die gymnastizierende Bodenarbeit am Kappzaum legten, nahmen wir auch mehr Kontrolle und Einfluss an uns. Nun ist es an der Zeit, diesen Prozess zu reflektieren und bewusster zu gestalten, damit auch unsere gymnastizierende Bodenarbeit dem Ziel dient, Nathan stärker und selbstbewusster zu machen und ihm Kontrollmöglichkeiten zu geben. Aber fangen wir am Anfang an:
Was ist überhaupt Empowerment?
Empowerment ist ein Prozess, in dem ein Individuum Kontrolle erlangt. Der Begriff des Empowerments ist somit eng verknüpft mit dem Machtbegriff.
Die Bedeutung der Macht
Wir können uns nicht damit befassen, unsere Pferde stärker und selbstbewusster zu machen, ohne dabei die Machtverhältnisse zwischen Pferd und Mensch zu betrachten. Normalerweise ist die Macht zwischen Pferd und Mensch ungleich verteilt. Immerhin ist es unser erklärtes Trainingsziel, Macht über das Pferd zu erlangen und zu bestimmen, welche Verhaltensweisen es zu welchem Zeitpunkt zeigt.
Dabei stellt auch das Mittel der Belohnung eine Form von Macht da. Wenn ich über Ressourcen verfüge, die mein Gegenüber gern haben möchte, dann kann ich über das Aushändigen und Zurückhalten dieser Ressourcen Macht ausüben. Oder ich kann mein Gegenüber „empowern“, indem ich den eigenständigen Zugang zu diesen Ressourcen ermögliche.
Auch wenn der Begriff „Macht“ eher negativ konnotiert ist, geht Machtausübung nicht zwingend mit negativen Konsequenzen einher. Ausschlaggebend ist die Intention hinter der Machtausübung. Dient die Macht nur dem Ausübenden? Oder wird mit der Ausübung der Macht ein geteiltes Ziel verfolgt?
Ich kann z.B. meine Belohnungsmacht dazu einsetzen, mein Pferd dazu zu bringen, in den Hänger zu gehen, um zu einem Kurs oder einem Turnier zu fahren – und damit vor allem meine menschlichen Ziele verfolgen – oder ich kann es dazu bringen in den Hänger zu gehen, um es im Notfall in die Klinik fahren und damit sein Leben retten zu können.
Ich möchte an dieser Stelle kein Urteil sprechen. Jeder darf für sich entscheiden, für welche Zwecke er Macht ausüben möchte, welche Ziele gerechtfertigt sind und welche Zugeständnisse er von seinem Pferd erwarten kann. Doch wir alle sollten uns darüber bewusst sein, dass wir unsere Machtmittel sowohl für als auch gegen unsere Pferde einsetzen können.
Wir können unsere Macht für und gegen unsere Pferde einsetzen.
Perspektivwechsel – ein erster Schritt im Empowerment-Prozess
Begeben wir uns nun in den Empowerment-Prozess, dann können wir zuerst einmal unsere Perspektive verändern: Zumeist betrachten wir in Bezug auf unser Training, wie wir unser Pferd kontrollieren können. Wir können die Frage jedoch auch verändern und uns damit befassen, wie unser Pferd uns (oder das Trainingsgeschehen) kontrollieren kann.
Wie kontrolliert dich dein Pferd? Wie beeinflusst dein Pferd das Training?
Grundlage der Macht – die Verweigerung
Eine ganz grundlegende Möglichkeit, die wir unseren Pferden zugestehen oder ihnen absprechen können, besteht darin, ein Verhalten zu verweigern. Ein Nein zu kommunizieren und in dieser Entscheidung respektiert zu werden. Hierin zeigt sich die Möglichkeit, sich der Machtausübung zu entziehen.
Unseren Pferden die Möglichkeit zu geben zu sagen „Nein, ich will das nicht (tun)“ stellt für mich die Grundlage des Empowerment-Prozesses dar.
Ob unsere Pferde eine Reaktion verweigern dürfen, hängt für mich eng mit der Frage zusammen, ob ein Körper demjenigen gehört, der in ihm wohnt. Eine manchmal schmerzhafte Frage, die wir ehrlich für uns selbst beantworten dürfen. Gehört mir mein Körper? Gehört meinem Pferd sein Körper?
Wenn meinem Pferd sein Körper gehört, dann sollte es doch kontrollieren dürfen, was mit diesem Körper getan wird und was nicht.
Dabei ist es mir nicht immer möglich, Nathan diese Kontrolle zuzugestehen. Vielleicht bilde ich es mir nur ein, aber manchmal denke ich, dass ich es besser weiß. Dann trage ich das Fliegenspray auf, obwohl er das nicht wirklich mag, damit er sich nicht blutig schubbert. Und dennoch versuche ich, dies so zu tun, dass er dabei möglichst viel Kontrolle über die Situation behält. Ich gebe mein Bestes, seine Bedürfnisse, sein Nein und seine Gefühle zu respektieren.
Auch wenn ich manchmal glaube, es auf Verstandesebene besser zu wissen, begegne ich meinem Pferd mit Demut.
Schrittweise durch den Empowerment-Prozess
Es besteht nicht die Notwendigkeit (und meist auch nicht die Möglichkeit), dem Pferd in jedem Bereich unverzüglich volle Kontrolle zu geben.
Entscheidend ist vielmehr, dass wir uns die Frage stellen:
In welchen Situationen ist es für mein Pferd wichtig, Kontrolle zu haben und wie kann ich meinem Pferd in diesen konkreten Situationen mehr Kontrolle überlassen?
Es hat sich als hilfreich erwiesen, die verschiedensten Situationen, die ich mit meinem Pferd erlebe, durchzugehen und mir für jede Situation zu überlegen, wie viel Kontrolle bei mir liegt und wie ich etwas von dieser Kontrolle ans Pferd abgeben kann.
Für einige Situationen ist es recht einfach, Kontrolle abzugeben. In der Freiarbeit kann ich das Pferd z.B. einfach entscheiden lassen, ob es auf meine Anfrage reagiert, nicht reagiert oder eine andere als die gewünschte Reaktion zeigt. Hier kann ich das Pferd sogar darin bestärken, frei heraus eigene Ideen zu präsentieren, ohne diese Ideen zu bewerten oder bestimmte Ideen sogleich zu forcieren.
Wie so ein grundlegendes Mindset für die Freiarbeit aussehen kann, habe ich hier schonmal beschrieben: Freiarbeit: Freiwilligkeit, Freundschaft & Freiheit
In anderen Situationen gestaltet es sich als schwieriger, dem Pferd mehr Einflussmöglichkeiten zu geben. Wenn es sich z.B. um Spaziergänge handelt, ist vielleicht nicht gleich ersichtlich, wie ich meinem Pferd sinnvoll mehr Kontrolle zugestehen kann. Hier sind einige Fragen, die ich mir gern in den jeweiligen Momenten stelle und die mich durch diesen Prozess leiten können:
Was ist gerade das Bedürfnis des Pferdes? Was würde das Pferd gerade gern tun?
Kann ich es meinem Pferd ermöglichen, das zu tun?
Wenn ich es meinem Pferd nicht ermöglichen kann, dann habe ich immerhin mein Bewusstsein dafür geschärft, dass ich in diesem Moment Kontrolle ausübe. Kontrolle, die der Bedürfniserfüllung des Pferdes entgegensteht. Ich behalte dies im Kopf, um dem Pferd bei nächster Gelegenheit die Möglichkeit zu geben, seinem Bedürfnis nachzukommen.
In diesem Artikel geht es in der Tiefe um das Thema Spazierengehen: Vertraut und entspannt draußen unterwegs – Tipps zum spazieren gehen mit dem Pferd
Wenn ich meinem Pferd ermöglichen kann, diesem Bedürfnis nachzukommen, so habe ich einen weiteren Schritt im Empowerment-Prozess getan.
Manchmal bedarf es dazu auch einigem Training. Ich werde mein Pferd auf einem Spaziergang z.B. erst über Richtung und Tempo bestimmen lassen, wenn ich mir sicher bin, dass es mir zuhören und im Zweifelsfalle mit mir anhalten wird. So kann gutes Training (= Machtausübung) eben auch zu mehr Freiheit und Wahlmöglichkeiten für das Pferd führen.
Wie unser Empowerment-Prozess in der gymnastizierenden Freiarbeit aussieht
Für Nathan ist es mir momentan wichtig, dass er in unserer Freiarbeit wieder mehr eigene Ideen einbringt. Zugleich lege ich hier den Fokus auf die Übertragung des Gelernten aus unseren Kappzaum-Einheiten.
Umso mehr ich über Biomechanik und wünschenswerten Bewegungsabläufen lerne, desto schwerer fällt es mir, Ideen und Angebote von Nathan zu bestärken, die nicht diesen Vorstellungen entsprechen. Langfristig glaube ich, dass es auch keinen Sinn macht, Bewegungen zu verstärken, die unseren weiteren Zielen widersprechen. Dennoch ist es mir wichtig, dass er sich auch aktiv in unsere Einheiten einbringen kann.
Wenn ich z.B. vermehrt schnellere und ausdrucksstärkere Bewegung bestärke, Nathan diese allerdings nur in Konterstellung und -biegung anbietet, dann bestärke ich diese Form jedes Mal mit. Deshalb möchte ich Nathan zuerst dazu ermutigen, Basiselemente der gymnastizierenden Arbeit auch in der Freiarbeit für sich zu entdecken und anzubieten. Dazu lenke ich meinen Fokus auf korrekte Stellung und Biegung und schaue, ob er mir diese Elemente zwischendurch von sich aus anbietet.
Wenn wir Stellung und Biegung als Basis etabliert haben, ermöglicht uns das wiederum, eine größere Bandbreite an Bewegungsvorschlägen von Nathans Seite aufzugreifen, ohne dabei entgegen unserer eigentlichen Ziele zu arbeiten.
Hier ist unser Empowerment-Prozess also wie so oft ein Kompromiss zwischen unseren menschlichen Zielen und den Bedürfnissen des Pferdes. Das zeigt auch wieder, dass wir Kontrolle selten vollständig abgeben. Kompromisse zu finden kann auch bedeuten, dass wir uns die Kontrolle teilen. Und wir dürfen damit beginnen, eine Basis und einen Rahmen zu schaffen, der es uns erst später ermöglicht, unserem Pferd mehr Kontrolle zu geben.
Wie hat dir dieser Post gefallen?
5
Schade, dass dir dieser Post nicht gefallen hat.
Hilf uns, unseren Blog zu verbessern.
Was hättest du dir gewünscht? Welche Frage ist unbeantwortet geblieben?
2 Comments
Hier sind Wunsch und Wirklichkeit bei mir leider nicht das Selbe. Ich würde so gerne auf Pinas „Nein“ reagieren, ihre Meinung ernst nehmen und sie Entscheidungen treffen lassen. Aber die Wirklichkeit sieht so aus, dass von ihr so gut wie gar kein Nein kommt, sie ihre Meinung nicht äußert und Zuviel Entscheidungsfreiheit sie stresst. Ich habe erkennen müssen, dass wir noch nicht soweit sind. Sie will die Macht über sich selbst nicht, weil sie den Menschen nicht traut. So ist der erste Weg hier vielleicht ihr zu zeigen, dass ihr Menschenbild nicht richtig ist und sie sich auch mal entspannen kann, wenn Menschen in der Nähe sind. Mit einem Pferd wie Pina, was auch noch so stark eingeschränkt ist, ein weiter Weg. Aber ich bin mir sicher, er wird sich lohnen.
Liebe Grüße
Miriam
Ganz gleich, wo wir mit dem individuellen Pferd ansetzen, um ihnen mehr Selbstvertrauen und Stärke zu geben – es ist immer der Weg, der zählt. Denn auch wenn Pina zuerst ihr Menschenbild verändern muss, um sich zu trauen, mehr eigene Entscheidungen zu treffen, hast du ihre Welt dadurch schon sehr verbessert. Und dann können die nächsten Schritte folgen.
Liebe Grüße
Anni