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Brauchen wir feste Grenzen im Umgang mit Pferden?

Sicherlich kennst du auch diese Sätze:

  • „Das ist doch respektlos! Da musst du eine Grenze aufzeigen!”
  • “Also ich würde mir das nie gefallen lassen!”
  • “Da muss man doch konsequent sein, sonst tanzt der/die dir noch auf der Nase herum!”

Eines haben diese Appelle alle gemeinsam: Sie wollen dir erzählen, dass du ganz unbedingt feste Grenzen brauchst, weil dein Pferd sonst die Weltherrschaft übernimmt.

Falls du auch zu denjenigen gehörst, die gerne mal verstohlen ihr Pferd an ihrer Kapuze knabbern lassen oder es eigentlich gar nicht so schlimm finden, wenn das Pferd die Nase in den Leckerliebeutel steckt – lass dir sagen, du bist nicht allein.

Mit fehlendem Respekt hat das für mich in den seltensten Fällen etwas zu tun. Ich lasse zu, was immer mich in dem Moment nicht stört, ohne Angst vor einer plötzlichen Machtübernahme des Pferdes – denn ich weiß genau, wie ich solche Verhaltensweisen zu jeder Zeit auf sanfte Weise unterbinden und meine Bedürfnisse kommunizieren kann, wenn das Verhalten mir unangenehm werden sollte.

Was mir aber wichtig ist, ist dass auch das Pferd die Möglichkeit hat, auf sanfte Weise meine ihm unangenehmen Verhaltensweisen zu unterbinden und in seinen Bedürfnissen gehört zu werden.
 

Denn Respekt ist für mich keine Einbahnstraße.

 
Wer selbst erwartet, dass die eigenen Grenzen respektiert werden, sollte auch die Grenzen des Pferdes respektieren.

Generell finde ich es an der Diskussion um Respekt und Dominanz so spannend, dass es scheinbar immer um den fehlenden Respekt des Pferdes dem Menschen gegenüber geht.

Doch wie sieht es eigentlich aus pferdischer Sicht mit unserem Respekt aus? Könnten wir diesen Test bestehen?

Ich denke, dass wir Menschen dazu neigen, sehr viele pferdische Höflichkeitsregeln zu missachten.

  • sich nicht die Zeit nehmen, um auf die Einladung und Zustimmung des Pferdes zur Annäherung zu warten
  • das Pferd ungefragt und unachtsam streicheln/anfassen
  • die feine Kommunikation über den gemeinsamen Raum nicht beachten
  • Pferde in nicht art-nahen Konzepten halten
  • schmerzhaftes Equipment und Trainingsmethoden anwenden
  • Pferden widernatürliche Dinge abzuverlangen und dabei noch erwarten, dass sie dem Menschen artig ihre Körper und am liebsten auch ihren Geist zur Verfügung zu stellen

Dies sind nur einige der Beispiele, in denen die Grenzen der Pferde nicht geachtet werden.

Ich finde, wir Menschen dürfen an dieser Stelle nochmal einen großen Schritt zurücktreten und ganz genau darüber nachdenken, wer hier eigentlich wen mit fehlenden Respekt behandelt. Und dann diesen Satz wirken lassen:
 

Wir brauchen feste Grenze nicht, um ein vermeintlich verrücktes Respektsverhältnis geradezurücken.

 
Denn das ist häufig ohnehin zu Ungunsten des Pferdes verrückt.

Und nein, ich sage nicht, dass vieles von dem was wir tun nicht entweder notwendig oder auch einfach okay ist und vielleicht sogar dem Pferd Spaß bereiten kann – jedoch dürfen gerade wir als sensible Pferdemenschen verstehen, dass wir immer gleichzeitig das Privileg und die Pflicht haben, selbst abwägen zu dürfen, ob und in welchem Maße wir uns fester Grenzen bedienen.

Wir sollten sie jedoch nie grundlos setzen und damit unauthentisch handeln. Stattdessen dürfen wir einerseits logisch und andererseits bedürfnisorientiert abwägen.
 

Wann feste Grenzen sinnvoll sein können

Aus meiner Sicht gibt es einige Fälle, in denen feste Grenzen für Mensch und Pferd ein sinnvoller Leitfaden sein können.

Dazu zählen für mich:

  • junge/unerfahrene Pferde, die schnell verunsichert werden
  • Menschen, die sich (noch) schwer damit tun, kongruent und gleichzeitig gewaltfrei im Einklang mit ihren Emotionen zu handeln
  • wiederkehrende Situationen, in denen immer wieder dasselbe verlangt wird

Der erste Punkt ist der beste Beweis für “es kommt drauf an”.

Nicht jedes Pferd ist gleich und unterschiedliche Pferde kommen mit unterschiedlichen Ansätzen besser zurecht.

Ein unsicheres Pferd fühlt sich vielleicht besonders in einem eng gesteckten Rahmen mit klaren Verhaltensregeln und Grenzen wohl – ebenso wie so manches junge Pferd, das ohnehin noch überwältigt ist von der Flut an Eindrücken, die es in der menschlichen Welt erwartet.

Solch einem Pferd auch noch die je nach Tagesform wechselnden Regeln eines Menschen aufzubürden, kann genau in die falsche Richtung führen. Hier bieten klare Grenzen ein sicheres Konstrukt, das dem Pferd das Gefühl der Selbstwirksamkeit durch die verlässliche Vorhersagbarkeit der Konsequenzen bei (Nicht-)Einhaltung der Grenzen schenkt.

Was hat es nun mit dem Punkt auf sich: “Menschen, die sich (noch) schwer damit tun, kongruent und gleichzeitig gewaltfrei zu ihren Emotionen zu handeln?”

Auch für uns sensible Pferdemenschen ist es eine Herausforderung, im Zusammensein mit Pferden unsere Emotionen zu regulieren. Denn wir treffen auf frustrierende, beängstigende oder überfordernde Situationen und stehen dann vor der Aufgabe, diese gewaltfrei zu lösen.

Alleine unsere Emotionen wahrzunehmen ist häufig schon der Punkt des Scheiterns.

Denn oftmals liegt der Zugang zu unseren Emotionen tief vergraben in uns und selbst wenn wir sie entdecken, ist unklar wie wir mit diesen Emotionen konstruktiv umgehen können. Wenn wir in diesem Bereich noch Schwierigkeiten haben, sollten wir auch die Größe besitzen, unser Pferd vor unseren emotionalen Ausbrüchen zu schützen – indem wir ihm feste Grenzen geben, die unsere innere Balance wahren.
 

Feste Grenzen sind sinnvoll, um unser eigenes Fass nicht zum überlaufen zu bringen und wieder in alte, gewaltbasierte Strategien abzurutschen.

 
Der letzte Punkt der wiederkehrenden Situationen bezieht sich darauf, dass es manchmal für das Pferd schlicht nicht die Option gibt “Nein” zu sagen (Huftermin, Zahnarzt, Tierarzt…). In solchen Situationen jedes Mal wieder über gewisse Verhaltensregeln wie still stehen oder Hufe geben neu zu verhandeln, wäre für das Pferd und alle Beteiligten stresshaft.

In diesem Fall kann es sinnvoll sein, auf die Einhaltung bestimmter Abläufe wert zu legen. Diese müssen natürlich nicht über Druck trainiert werden, sondern können in vielen Fällen auch über positive Verstärkung erarbeitet werden.
 

Grenzen intuitiv kommunizieren – geht das?

Mit intuitive Grenzen verlassen wir jedoch das sichere Terrain der klaren Regeln und begeben uns in ein anderes spannendes Feld – das der frei fließenden Kommunikation.

Damit dieser Versuch nicht von Anfang an scheitert, sollte besonders eine Sache gegeben sein: Achtsamkeit.

Nur wer zuhört, kann die Fragen und Wünsche des Gegenübers beantworten. Unsere Pferde beherrschen diese Kunst der achtsamen Kommunikation im Alltag besonders gut, denn sie sind tief im Hier und Jetzt verwurzelt.

Wenn man mal genau beobachtet, gibt es in einer Herde nur wenige starre Regeln. Vieles wird überwiegend je nach Tagesform entschieden. Mal darf der Ranghöchste zuerst ans Futter und alle anderen müssen abwarten und mal ist er so satt und zufrieden, dass jedes Pferd, welches möchte, sich ebenfalls am Futter bedienen darf.

Unsere Pferde kennen diese Form der Kommunikation also sehr gut.

Im Alltag mit mit Nathan handhabe ich vieles ähnlich. Mir macht es beispielsweise meistens nichts aus, wenn Nathan sich an meinem Bein schubbert, wenn es ihn am Kopf juckt. Ebenfalls finde ich es absolut okay und gut, wenn er sich im Training selbstständig Pausen nimmt oder mir mitteilt, wenn ihm etwas zu viel wird.

Dann jedoch gibt es wieder Tage, an denen mich etwas davon stört, etwa weil es mir ein unwohles Gefühl gibt oder ich gerade andere Prioritäten setze. In dem Wissen, dass ich mich schützen und für meine Bedürfnisse sorgen darf, ist das der Moment, in dem ich eine Grenze aufzeige.

Doch sie gilt für diesen Moment – nicht für gestern und nicht für morgen. Sondern JETZT. Ein Konzept, das er sehr gut aus dem Herdenalltag kennt. Jedoch erfordert das intuitive Grenzen setzen sehr viel mehr Fingerspitzengefühl und Selbstreflexion, als klare und gleichbleibende Grenzen.

Denn es kann hier viel schneller zu Missverständnissen kommen, die ebenfalls für viel Stress sorgen.

Sind wir nicht achtsam genug und missachten sowohl unsere eigenen Bedürfnisse als auch die Bedürfnisse des Pferdes, schaden wir der Selbstwirksamkeit (unserer eigenen oder der des Pferdes).

Wo zuvor die Sicherheit für das Pferd darin bestand, dass immer die gleichen Konsequenzen folgen, wenn es die immer gültige Regel beachtet und nicht-beachtet, besteht die Sicherheit nun darin, dass wir uns gegenseitig frühzeitig und klar über unsere Bedürfnisse austauschen – bevor eine Eskalation nötig wird.

Es wäre also beispielsweise sehr unfair, einfach nur selbst unaufmerksam zu sein und den Ärger nicht wahrzunehmen, der in uns hochsteigt wenn das Pferd sich ausgiebig an unserem Bein schubbert und dann plötzlich die Hand zu erheben und laut zu werden, wenn man es nach einer Weile doch unweigerlich gereizt wahrnimmt. Die Verlässlichkeit in unserer Kommunikation ersetzt nun die Verlässlichkeit der vorhersehbaren Konsequenzen.

Auf diese Art können wir es uns bei den Pferden “erlauben”, in gewissen Situationen tatsächlich je nach Tagesform anders zu entscheiden – ganz ohne die Gefahr, dass das Pferd die Weltherrschaft übernimmt.

Denn ein Miteinander entsteht nicht, wenn der eine den anderen beherrscht, sondern wenn beide die Bedürfnisse des Gegenübers achten.
 

Fazit:

Aus Prinzip oder aus Angst vor der Macht des Pferdes brauchen wir keine festen Grenzen. Wir dürfen authentisch sein und nach Tagesform unterschiedliche Sachen okay und andere nicht okay finden – und wir dürfen dafür sorgen, dass diese Grenzen geachtet werden.

Dieses Recht sollten wir aber immer auch den Pferden zugestehen – Respekt ist keine Einbahnstraße.

In manchen Situationen jedoch können feste Grenzen und klare Abläufe sehr zum stressfreien und sicheren Miteinander beitragen und sowohl das Pferd als auch den Menschen vor einer Eskalation beschützen. Daher sollten wir stets individuell abwägen, ob eine Grenze für das individuelle Pferd und auch für uns als Individuum gerade am sinnvoll erscheint oder nicht.
 

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