Als ich anfing in einer Reitschule Umgang mit Pferden zu haben, erschien mir eins als unheimlich wichtig: Zu lernen, was man tun und was man lassen sollte. Lernen, was gut und was schlecht für Pferde ist. Was man darf, soll und kann und was die ungeschriebenen Gesetze der Reiter- und Pferdewelt verbieten. So lernte ich, dass Fehler des Pferdes im Ansatz korrigiert werden müssen, damit der Mensch vom Pferd als Leittier anerkannt wird, dass physische Gewalt schlimm, aber Kontrolle unbedingt notwendig ist, dass Gebisse dem Pferd Schmerzen bereiten und weshalb man nicht neben, sondern vor dem Pferd gehen sollte.
Ich begann damals mit 11 Jahren mit dem Rai-Reiten – einer Reitweise, die aufs Wanderreiten ausgerichtet ist und sich an der Natur des Pferdes orientiert. Ich verschlang alle Bücher, die ich zum Thema Pferd zu fassen bekam (vermutlich einer der Gründe, weshalb meine Klassenkameraden mich für verschroben hielten) und vertiefte mich in Theorien und Überzeugungen anderer Pferdemenschen.
Irgendwann war ich überzeugt, dass es für jede Situation, die man mit Pferden erleben kann, eine vorher festgelegt Verhaltensregel, eine optimale Lösung gäbe. Ich dachte, ich bräuchte nur diesen ungeschriebenen aber universellen Leitfaden zu kennen und würde alles richtig machen. Alles so tun, wie es getan werden muss.
In diesen Jahren entwickelte ich einige Gewohnheiten., die ich später noch des öfteren verfluchen sollte, z.B. auf Widerstand mit Wut und Durchsetzen zu reagieren, “Fehler” des Pferdes sofort zu korrigieren und es als gerechtfertigt anzusehen, meine Wünsche über die des Pferdes zu stellen.
Ich benötigte lange, um zu verstehen, in welchem Ausmaß ich mich geirrt hatte, wie sehr mich diese Überzeugungen und Regeln von Wachstum, Erkenntnis und Lernen abhielten. Es benötigte das Wissen, dass es unzählige Menschen da draußen gibt, deren oberstes Ziel es nicht ist, ihre Pferde unterzuordnen. Menschen, die Fehler zulassen, Kontrolle abgeben und dafür so viel von den Pferden zurück bekommen. Es benötigte das Wissen, dass Pferde nicht versuchen, die Weltherrschaft an sich zu reißen, wenn man einen Moment von seiner Chefposition abrückt, dass sie Menschen nicht notwendigerweise wie rangniedere Pferde behandeln und dass wir keinen Kampf mit ihnen ausfechten müssen – wenn wir nicht wollen.
Hätte ich auch nur geahnt, wie anders und wunderbar und sanft wir mit Pferden sein können, ich wäre aus dem Staunen wohl nicht mehr rausgekommen.
Es benötigte das Wissen, dass sich zwischen all den Regeln und Überzeugungen eine riesige Vielfalt an Möglichkeiten versteckt. Möglichkeiten, die ich nicht sah und an die mein 15-jähriges Selbst auch nicht geglaubt hätte. Möglichkeiten, für die mein Kopf unverzüglich dutzende von Gegenargumenten vorzutragen begann, wenn sich eine von ihnen doch mal zeigte. Möglichkeiten, die in den Theorien, die ich kannte, nicht vorgesehen waren, für die in meiner Welt kein Platz war, die mir unwirklich und unmöglich erschienen. Damals.
Damals, als die Welt der Pferde mir noch simpel und stets logisch erschien, als mein Horizont nicht weiter reichte als bis zur nächsten Reitweise und ich mir strengstens all das verboten hätte, was für mich heute das Sein und Interagieren mit Pferden ausmacht.
Ich übersah damals einen entscheidenden Aspekt, die Antwort auf eine Frage, die ich nicht stellte:
Ich hatte es mit zwei komplexen, lebendigen, einzigartigen Wesen zu tun. Zwei Wesen, die nicht nur der Evolution ihrer Spezies unterliegen. Zwei Wesen, deren biologischen, neurologischen und chemischen Komponenten nie in ihrer Gesamtheit erfasst werden können, die von ihren Stimmungen, Gedanken und Überzeugungen geleitet werden und durch all ihre Erfahrungen geprägt sind. Die neben allem, was sie sein könnten auch noch von Moment zu Moment wandelbar sind.
Ich versuchte, all mein “Wissen” zu ordnen und zu verstehen, während ich ganz und gar an der Essenz des Lebens vorbei lernte. Weil ich nur einfache Fragen stellte, weil ich blind war für die Komplexität des Lebens, offenbarten auch die Antworten nur Einfachheit. Weil ich nur nach den Theorien anderer fragte, bekam ich nur diese Theorien als Antwort.
Ich wusste nicht, dass ich feststeckte und ich steckte nicht fest, weil die Antworten falsch waren, sondern die Fragen.
Wer sind wir, das Pferd und ich? Und was geschieht, in uns, zwischen uns, um uns herum? Und was geschah all die Momente in all den Jahren zuvor? Wie sind wir an diesen Punkt gekommen und wie könnten wie von hier aus weitergehen? Von Moment zu Moment.
Ich weiß jetzt, dass die wichtigen Fragen die sind, auf die es keine einfache Antwort gibt. Fragen, die zu Fragen führen, die Gedanken und Gefühle wecken, die mich leiten und erkennen lassen, aber nur bis zur Vollendung des nächsten Schritts. Nur, bis sich die nächste Frage stellt. Die wertvollen Fragen sind die, die mich öffnen, statt zu verschließen, die beginnen, statt zu beenden.
Heute erscheint es mir wie eine lange Reise in die Freiheit. Als könnte ich mit jeder Regel, die ich über Bord werfe, einen weiteren Schritt hin zu mir selbst machen. Die Erkenntnis, dass es wenige Regeln gibt, die universell gültig sind und dass keine von ihnen mir Handlungen vorschreibt, sondern meinen Blick ausrichtet, um mir in jedem Moment zu einer individuell angemessenen Handlung und Lösung zu verhelfen – diese Erkenntnis hat mich befreit.
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2 Comments
Ich wollte immer gerne eine Schritt-für-Schritt-Anleitung für meine Pferde und erkenne immer wieder, dass es diese nicht geben wird und das gut so ist. Jedes Pferd und jeder Mensch sind anders und damit die Beziehungen und genau das macht das Schöne und Wertvolle aus. Aber ehrlich gesagt trotzdem würde ich mir manchmal statt dem Arbeiten an mir selbst, dem Reflektieren und hinschauen eine Anleitung wünschen. Aber ich weiß, dass ich damit auch den Zauber der Beziehung verpassen würde.
Liebe Grüße
Miriam
Das kann ich so gut nachempfinden! Aber eine gesunde und tragfähige Beziehung zu seinem Pferd erfordert eben auch eine gesunde und tragfähige Beziehung zu sich selbst. Was immer wir den Pferden geben wollen, wir müssen es erst für uns selbst finden und in uns selbst festigen. Das ist oft anstrengend und herausfordernd, aber ich glaube, es ist auch ein großes Geschenk, dass wir da so neben all den anderen wunderbaren „Kleinigkeiten“ bekommen, die die Pferde uns ermöglichen.
Liebe Grüße
Anni