In diesem Artikel erklären wir
- was der Unterschied zwischen Freiarbeit und Freiheitsdressur ist
- welche Rolle die freie Wahl im Pferdetraining spielt
- und wie die Freiarbeit zu einem Rahmen für Freundschaft mit dem Pferd werden kann.
Viel Spaß beim Lesen!
Wenn von Freiarbeit mit Pferden die Rede ist, dann stellen sich die meisten Pferde vor, die frei um ihre Menschen herum zirkeln, die ohne Halfter und ohne Strick auf die kleinsten Kommandos reagieren, die mit ihren Menschen zu tanzen scheinen. Das ist nur ein kleiner Teil der Art der Freiarbeit, wie wir sie verstehen. Freiarbeit bedeutet für uns die Zusammenarbeit oder eher noch das Zusammensein von Pferd und Mensch in größtmöglicher Freiheit.
Wir legen unseren Fokus dabei nicht auf spektakuläre Lektionen oder feinsten Gehorsam des Pferdes. Wir möchten erreichen, dass Pferd und Mensch so frei sind wie nur möglich und im Rahmen dieser Freiheit eine Kommunikation, ein Zusammenspiel entwickeln, an dem beide Freude empfinden. Freiarbeit ist für uns kein Selbstzweck. Freiarbeit dient uns nicht einfach zur Beschäftigung des Pferdes. Sie ist die Basis, die inneres Wachstum ermöglicht.
Selbstreflexion, Bewusstsein, Selbstbestimmung, Rücksichtnahme und die Intention, das Pferd und uns selbst emotional, körperlich und geistig zu stärken und in die Balance zu bringen sind die Pfeiler, die diese „Arbeit an der Freiheit“ tragen.
Ich möchte dir heute einen Einblick in das Potential dieser Arbeit geben, dich mit etwas anderen Gedanken und Ideen über die Freiarbeit mit Pferden vertraut machen, dich einladen zu experimentieren und dich selbst und dein Pferd besser kennenzulernen.
Freiarbeit – Freiwilligkeit oder Zwang?
Es gibt dieses Zitat: „Wenn du das Seil entfernst bleibt nur eins, die Wahrheit“. Doch welche Wahrheit ist es, die bleibt? Wenn ich das Seil entferne und mein Pferd mir keinen Schritt von der Seite weicht, kann ich daraus schließen, dass es freiwillig bei mir bleibt? Kann ich daraus schließen, dass wir Freunde sind? Es kommt darauf an.
Im klassischen Horsemanship wird den Pferden häufig beigebracht, dass es in der Nähe des Menschen am angenehmsten ist – es ist der Ort, an dem sie eine Pause von der Druckeinwirkung bekommen. Die Methode des Join Up ist ein Beispiel dafür, wie Pferden durch operante Konditionierung und speziell negative Verstärkung beigebracht wird, dass es besser ist, sich dem Menschen zuzuwenden und ihm nicht mehr von der Seite zu weichen. Das Pferd wird dabei so lange mit Druck im Round Pen getrieben, bis es sich dem Menschen zuwendet.
„Mache das Gewünschte einfach und das Unerwünschte unbequem“ – so einleuchtend dieser Satz erscheint, so sagt er doch nichts anderes als „bestrafe das Verhalten, dass du nicht willst, sodass das Pferd nur noch eine (einfache) Möglichkeit hat, der Bestrafung zu entgehen“. Bestrafung bedeutet dabei nicht, dass das Pferd physischen Schmerz erfahren muss. Bestrafung ist schlicht alles, was dazu führt, dass das Pferd ein Verhalten weniger häufig zeigt.
Mehr zum Thema Strafe kannst du in Janas Beitrag Hilfe, mein Pferd beißt! nachlesen oder in dem Grundlagenartikel „Nur ein Klaps – positive Strafe im Pferdetraining“.
Wendet sich das Pferd von mir ab und ich treibe es danach so lange von mir weg, bis es sich mir wieder zuwendet, so wird es sich wahrscheinlich in Zukunft weniger häufig von mir abwenden und gleich bei mir bleiben. Doch es tut das nicht aus Zuneigung oder weil es sich dem souveränen Leittier Mensch anschließt, sondern einfach weil sein „Fehlverhalten“ unbequem gemacht, also bestraft wurde.
Freie Wahl in der Freiarbeit und im Pferdetraining
Wann können wir sicher sein, dass das Pferd freiwillig bei uns bleibt? Niemand kann nach seinem freien Willen handeln, wenn es nur Optionen zur Auswahl gibt, von denen er eigentlich keine wählen will.
„Entweder, du räumst jetzt dein Zimmer auf oder ich nehme dir dein Handy weg“ – wir würden wohl nicht sagen, dass das Kind sein Zimmer freiwillig aufgeräumt hat, oder? Es hat von zwei Übeln einfach nur das weniger Schlimme gewählt. Dennoch wird das Verhalten von Pferden in vergleichbaren Situationen oft als „freiwillig“ betitelt.
Nach seinem freien Willen handeln zu können, bedeutet dass genug Optionen zur Auswahl stehen, die das Individuum gerne wählen möchte. Optionen, die nicht mit hohen Kosten (wie Strafe, Schmerz, Angst, Unwohlsein oder Stress) einhergehen.
Dem freien Willen der Pferde Raum zu geben, bedeutet für mich, dass ich ihnen, soweit möglich, verschiedene einfache und angenehme Optionen zur Verfügung stelle, die es ihnen ermöglichen, sich gegen mich zu entscheiden.
“Nein” muss eine tatsächlich wählbare Alternative sein, damit ein ehrliches “Ja” überhaupt möglich wird.
Freiarbeit als Basis für Freundschaft zwischen Pferd und Mensch
Menschen bedeuten für Pferde nicht natürlicherweise etwas Gutes. Welche Bedeutung der Mensch für das Leben eines Pferdes hat, wie es die Menschen generell einzuordnen hat, das muss es erst lernen.
Für uns, die Freundschaft mit dem Pferd schließen wollen, bedeutet das, dass wir einen Weg finden müssen, das Zusammensein mit uns zu einem positiven Erlebnis für das Pferd zu machen.
Wie erlebt dein Pferd wohl die Zeit mit dir? Und wenn es zu einem abschließenden Urteil über euch käme, würde dieses positiv, neutral oder negativ ausfallen?
Der Alltag, den wir mit unseren Pferden erleben führt nahezu unweigerlich dazu, dass es gelegentlich zu Situationen kommt, die das Pferd als unangenehm empfindet. Je größer unser Bewusstsein und je flexibler unser Verhalten, desto mehr potenziell negative Situationen können wir in neutrale oder sogar positive verwandeln.
Leider wird uns dieses Bewusstsein und diese Flexibilität oft schon in jungen Jahren abtrainiert. Uns wird beigebracht, dass wir uns unbedingt durchsetzen müssen und dass Pferde „das schon abkönnen“. Uns wird gelehrt, Pferde dazu zu erziehen für den Menschen zu funktionieren, statt uns dazu zu inspirieren nach Wegen zu suchen, auf denen das Zusammenspiel zwischen Pferd und Mensch der Individualität beider Raum gibt.
Das alles mag jetzt unheimlich verkomplizierend und unnötig schwierig erscheinen. Als müssten wir unser ganzes Sein mit den Pferden von heute auf morgen komplett umkrempeln.
Wieso sollen wir die bewährten Regeln, die gewohnten Routinen aufgeben?
Wir sind nicht dazu gezwungen. Aber wir befinden uns in einer Zeit, die es uns erlaubt, diese Fragen zu stellen.
Mit Pferden Freundschaft schließen zu dürfen ist ein Privileg unserer Zeit. Also wieso sollten wir nicht versuchen, mit geschärftem Bewusstsein und kindlicher Neugier nach mehr Freude, Leichtigkeit und Harmonie zu suchen? Vielleicht haben wir ein wenig zu verlieren, ja – das Ansehen bei einigen unserer Stallkollegen, die Einfachheit der Gewohnheiten, die Klarheit des Glaubens an altbekanntes Wissen. Aber da gibt es so viel mehr zu gewinnen.
Freiarbeit als schützender Rahmen
In der Freiarbeit können wir herausfinden, was das mit uns macht – zu sehen, was das Pferd tatsächlich wählt, wenn es wählen darf.
Mit unserer lieben Schülerin Carina haben wir diese Situation mit dem äußerst verlockenden Gras auf der einen Seite und dem Wunsch nach einer feinen Verbindung in Freiheit auf der anderen Seite im Unterricht gelöst. Lies dazu mehr in diesem Artikel: Carina, Lotte und die Freiarbeit.
Freiarbeit bedeutet für mich, dass wir gewillt sind, uns Stück für Stück in Richtung Freiheit vorzuarbeiten. Brauche ich diese Überzeugung? Hilft mir diese Erwartung? Ist das wirklich mein Ziel? Hilft mir dieses Werkzeug? Was passiert, wenn ich mich davon löse? Wie fühlt sich das eigentlich an, einen Moment nicht an richtig und falsch zu denken und einfach mal zu machen – aus dem Bauch heraus?
Da liegen so viele Schichten um unseren Kern. Werte, die nicht unsere sind. Ziele, die wir nie bewusst gewählt haben. Überzeugungen, die wir nie hinterfragt haben. Gewohnheiten, die unseren Wünschen nicht dienlich sind. Handlungen, die nicht aus unserem Herzen kommen. In der Freiarbeit können wir innehalten, eine Hand auf unser Herz legen, hinhören und dem nachspüren, was der Moment mit uns macht.
In der Freiarbeit sind wir frei, unperfekt und ehrlich zu sein. In der Freiarbeit können wir unser Lächeln wiederfinden.
Die Erfahrungen, die wir hier machen, können wir nach und nach in unser ganzes Leben integrieren. Wir können es uns zur Gewohnheit machen, zu reflektieren, zu hinterfragen und loszulassen, damit Raum entsteht für das, was wir wirklich wollen. So geben wir den Lebewesen, Erfahrungen und Gefühlen Raum in unserem Leben, die uns wirklich wichtig sind.
Ich wünsche dir viele befreiende Momente,
Anni
Hinweis: Einen kompletten Leitfaden zur Freiarbeit auf Augenhöhe mit dem Pferd findest du hier.
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4 Comments
Hi, ich besitze eine 11 Jährige stute und habe ein kleines Problem, was glaube ich in der Basis unserer Komunikation liegt. Immer wenn ich sie führe muss ich sie ziehen und beim längeren zieht sie immer sehr nach außen. Desweiteren weicht sie immer weg sobald ich sie mit einer Grete führe, statt nach vorne zu gehen.
Ich hoffe sie haben eine Idee wie ich an mir arbeiten kann, damit unsere Komunikation wieder funktioniert .
Hallo Lilly!
Danke, dass du dich mit deiner Frage an uns wendest.
Ich kann – ohne das Problem gesehen zu haben – nur mutmaßen, was die Ursachen für das Problem mit deiner Stute sind. Aus Erfahrung liegen Führprobleme häufig an der Unklarheit des Menschen sowie an der fehlenden Motivation des Pferdes. Damit ist nicht gemeint, dass das Pferd nicht grundsätzlich motiviert wäre, im Training mit dem Menschen zusammenzuarbeiten. Manche Pferde „dissoziieren“ im Training – das bedeutet, sie schalten sich mental weg, wenn sie die Aufgabe nicht verstehen und/oder schlechte Konsequenzen befürchten. Das passt auch sehr gut dazu, dass sie scheinbar die Gerte negativ verknüpft hat, da sie ihr weicht, statt diese als Vorwärtsimpuls zu verstehen. Ich kann dir zu dieser Thematik diesen Blogartikel empfehlen: https://flourishalona.com/dissoziation-wenn-pferde-kein-interesse-zeigen/ . Bezüglich der eigenen Klarheit sind folgende Punkte wichtig:
1) Kannst du sicherstellen, dass dein Körper ihr nicht im Weg steht (Fußspitzen zeigen nach vorne, dein Oberkörper ist nach vorne gerichtet nicht seitlich oder gar rückwärts zu ihr)?
2) Bist du sicher, dass du SIE nicht schon ziehst, wenn sie eigentlich noch brav mitläuft (niemals Druck machen, wenn das Pferd das gewünschte Verhalten zeigt)?
3) Kannst du jederzeit ihre Aufmerksamkeit mit kleinen Anfragen wieder auf dich lenken, sodass sie dich nicht einfach durch die Gegend zieht (also du gibst ihr den Weg vor, nicht umgekehrt + du kannst sie nach langsamer/schneller/rechts/links fragen)?
Wenn diese Punkt sichergestellt sind und das Problem weiterhin besteht, würde ich mir einen Trainer hinzunehmen. Wir selbst bieten eine Online-Begleitung an, mit der wir dich auch ortsunabhängig bei diesem Problem unterstützen können. Falls du daran Interesse hast, melde dich gerne über das folgende Formular: https://docs.google.com/forms/d/19hxOHUVZI9TpC8Czgvf-kDqaRboBhHSoTA_afLqnUZE/edit .
Ich hoffe, ich konnte dir weiterhelfen.
Liebe Grüße und viel Erfolg wünscht dir
Jana
Hallo, der Artikel bringt mich nun doch dazu mal eine Frage zu stellen, die mich schon eine Weile in Verbindung mit Freiheit und Pferden umtreibt. Ist „Entweder, du räumst jetzt dein Zimmer auf oder ich nehme dir dein Handy weg“ soviel besser als „Du räumst jetzt dein Zimmer auf und dafür bekommst Du Schokolade“? Für mich handelt es sich bei beiden Aussagen um Erpressung. Räumt das Kind jetzt immer von alleine freiwillig das Zimmer auf ohne dafür Schokolade zu erwarten? Diese Frage würde ich nämlich auch mit nein beantworten! Viele Grüße