Bist du gefühlt noch Meilen davon entfernt, dass dein Pferd mit stolz erhobenem Kopf um dich herum zirkelt, auf kleinsten Fingerzeig die Richtung wechselt, sich frei neben dir hinlegt und dir voller Begeisterung überall hin folgt?
Ich verrate dir ein Geheimnis 👀: An dieses Level der Freiheitsdressur kommen wir mit Nathan nicht einmal im Traum ran.
Wollen wir aber auch gar nicht 🌿.
Warum?
Weil Freiarbeit nicht erst dann wertvoll ist, wenn unsere Pferde die leisesten Signale punktgenau ausführen. Freiarbeit beginnt dann wertvoll zu sein, wenn sie zu einer authentischen Kommunikation beiträgt. Wenn sie deinem Pferd Gelegenheit gibt, sich dir zu zeigen – wie es wirklich ist.
Freiarbeit ist wertvoll, sobald sich durch sie eure Beziehung vertieft.
Und ja, auch dann schon, wenn die Freiarbeit mit deinem Pferd (noch) ziemlich chaotisch aussieht.
Trotzdem gibt es einige Punkte, die gerade bei den ersten Schritten in der Freiarbeit stören können. Weil diese Punkte eine echt schlechte Voraussetzungen für ein harmonisches Miteinander sind.
Wenn es beim Einstieg in die Freiarbeit hakt, dann vielleicht aus einem der folgenden 5 Gründe:
Fallstrick 1: Alles nur eine Illusion von Freiarbeit?
Erwartungen entwickeln sich ganz von selbst. Du schaust dir Ostwind an, beobachtest andere Trainer*innen mit ihren Pferden, ließt Bücher oder besuchst Kurse. Es dauert nicht lange und schon hast du ein Bild von “Freiarbeit”.
✍️ Überleg mal kurz:
Was enthält dein Bild von “Freiarbeit”?
Im kontrollierten Galopp über den Platz, angetrabt kommen auf Zuruf, vertrauensvolles Ablegen neben dem Menschen und ein eindrucksvoll steigendes Pferd – all das ist immer noch Teil meines Bildes von “Freiarbeit”. Obwohl es fast nichts mit der Freiarbeit zu tun hat, die ich mit Pferden in der Realität erlebe.
Trotzdem begleitet mich dieses Bild, wenn ich mit Nathan in die Freiarbeit gehe. Es ist der Maßstab, an dem ich unsere Trainingseinheit ganz automatisch bemesse, wenn ich nicht aufpasse.
Nathan kommt nicht angetrabt? Der Galopp ist weder kontrolliert, noch balanciert, oder erst gar nicht vorhanden? Mehr als Schritt ist heute nicht drin? Und Ablegen geht noch immer nicht auf Signal?
Upsi… Schon sind da enttäuschte Erwartungen 🙈. Die uns beiden die Stimmung vermiesen.
Also passe ich meine Erwartungen vor der nächsten Einheit an:
✍️ Wie sieht Freiarbeit realistisch aus – für dein Pferd und dich?
Was sich nicht zeigt, wenn du in der Freiarbeit das Seil abmachst
Eine weitere Form zu hoher Erwartungen taucht auf, wenn du mit deinem Pferd schon viel Bodenarbeit am Seil gemacht hast: Die Erwartung, dass du einfach das Seil abmachen kannst und weiter alles funktioniert wie gewohnt.
Das funktioniert oft nicht.
Denn das Seil ist ein Kontextreiz – es gibt deinem Pferd wichtige Informationen: Welche Regeln gelten jetzt? Welche Aufgaben werden wahrscheinlich gestellt? Was sind die Konsequenzen für bestimmte Verhaltensweisen? Was lohnt sich – was lohnt sich nicht?
Entfernst du das Seil, zeigt sich nicht die Wahrheit.
Stattdessen zeigt sich, was dein Pferd bisher über diesen neuen Kontext gelernt hat: Was hat dein Pferd bisher darüber gelernt, mit dir frei in der Reitbahn zu sein?
Geh also zu Beginn lieber davon aus, dass du vieles mit deinem Pferd erstmal mehr oder weniger neu erarbeiten musst. Manches wird sofort funktionieren. Anderes nicht.
Fallstrick 2: Bist du die “lästige Fliege”?
Wenn etwas nicht klappt, neigen wir gern zu einem entscheidenden Fehler:
❌ Wir machen MEHR.
Wir strengen uns mehr an, machen mehr Druck, mehr Energie, versuchen dieses und jenes und sind überzeugt, dass es so doch irgendwann funktionieren muss 😩.
Ertappst du dich in der Freiarbeit immer wieder bei Folgendem?:
👉 Du läufst deinem Pferd immer wieder hinterher.
👉 Du hast das Gefühl, dein Pferd ständig überzeugen zu müssen.
👉 Es ist anstrengend, die Aufmerksamkeit deines Pferdes bei dir zu behalten.
Zum Thema Fokus in der Freiarbeit gilt:
Es gibt Faktoren, die die Aufmerksamkeit deines Pferdes von dir wegziehen (z.B. das Gras am Reitplatzrand). Über diese Faktoren hast du erstmal keine Kontrolle. Es gibt aber auch Faktoren, mit denen du die Aufmerksamkeit deines Pferdes quasi von dir wegstößt.
Dazu zählt zum Beispiel,
- wenn du mehr Druck machst, als für dein Pferd angenehm ist.
- Wenn du enttäuscht reagierst, weil dein Pferd nicht das tut, was du erwartest.
- Wenn deine Anfragen unklar sind, sodass dein Pferd darüber nachgrübeln muss.
Ich habe dazu das Bild der “lästigen Fliege” im Kopf, die das Pferd gern loswerden würde. Die Anwesenheit der Fliege tut zwar nicht weh, aber sie nervt.
Und sie nervt nicht nur unsere Pferde – die “lästige Fliege zu sein“ ist auch kein schönes Gefühl für uns selbst. Wann immer du diesen Drang spürst, MEHR zu tun, krampfhaft ein Ergebnis erreichen zu wollen, erde dich. Lass die Fliege weiterziehen 🪰. Und konzentriere dich auf Faktoren, die die Aufmerksamkeit deines Pferdes durch ein angenehmes Gefühl auf dich ziehen können.
Weniger ist mehr. Gerade in der Freiarbeit.
Fallstrick 3: Wie gut kannst du warten?
Wie schon erwähnt, wirst du deinem Pferd zu Beginn der Freiarbeit wahrscheinlich einiges neu erklären müssen, was am Seil schon super funktioniert. Und dabei aufpassen, dass du die Aufmerksamkeit deines Pferdes nicht von dir wegstößt.
Auf einer Skala von 1 (= Geduld, was ist das? 😵) bis 10 (= Geduld? Easy peasy 😏):
Wie leicht fällt es dir, geduldig zu sein?
Wie leicht fällt es dir, abzuwarten, bis dein Pferd eine Aufgabe verarbeitet hat und reagiert?
Wie leicht fällt es dir, eine Anfrage ohne negative Gefühle noch einmal und noch einmal und noch einmal zu erklären, wenn dein Pferd dich nicht versteht?
Wie leicht fällt es dir, ruhig zu bleiben, wenn andere dabei zusehen, wie dein Pferd nicht so auf deine Signale reagiert, wie du das vorgesehen hattest?
Wie leicht fällt es dir, im Training nicht weiterzugehen, sondern an den Basics zu arbeiten, wenn du merkst, dass die nächste Aufgabe noch zu schwierig ist?
All das ist eine Frage der Geduld.
🌿 Erinnere dich immer wieder daran, deinem Pferd Zeit zu geben. Warte auf dein Pferd. Atme und warte.
Und: Wenn etwas einfach nicht funktioniert, musst du das nicht jetzt sofort lösen. Du kannst außerhalb des Trainings darüber nachdenken und es beim nächsten Mal anders probieren.
Oft lösen sich Schwierigkeiten von selbst auf, wenn wir uns nicht an ihnen festbeißen.
Lass dir nicht die Laune vermiesen, wenn etwas nicht (sofort) klappt. Nimm Missverständnisse und Unklarheiten stattdessen mit Humor.
Fallstrick 4: Und dein Pferd so?
Wie viel Lust hättest du auf ein Gespräch, in dem nur dein Gegenüber etwas sagen darf? Und du dich allerhöchstens äußern darfst, wenn du gefragt wirst?
Hört sich an wie in der Schule, oder?
Ich glaube, so geht es unseren Pferden ziemlich häufig. Sie sind hauptsächlich Rezipienten unserer Anweisungen und Anfragen 🙈.
In der Freiarbeit kann das dazu führen, dass dein Pferd sich gegen das “Gespräch” mit dir entscheidet. Dann geht es lieber weg und macht sein eigenes Ding.
Aber die Freiarbeit wirklich als Dialog zu gestalten, ist auch gar nicht so einfach. Denn die Vorschläge deines Pferdes sind gerade zu Beginn wahrscheinlich
a) nicht vorhanden
oder
b) sehr sehr leise.
Dann gilt es, den Beginn der Freiarbeit so zu gestalten, dass dein Pferd lernt, dass es Vorschläge und Ideen einbringen darf. Dass das nicht nur erlaubt, sondern sogar gewünscht ist.
Dabei helfen diese drei Möglichkeiten:
- die positive Verstärkung (in Form des Clickertrainings)
- die Übung “Das Kleinste Angebot”
- Gegenstände einzubeziehen (Plane, Ball, Podest, Wippe, Stangen…) mit denen dein Pferd interagieren und dir so Ideen, Vorlieben und Vorschläge präsentieren kann.
Halte Ausschau auch nach den kleinen, leisen Äußerungen deines Pferdes.
Reagiere darauf, wenn dein Pferd anzeigt, dass es an etwas Interesse hat oder dass es gern eine bestimmte Lektion zeigen, die Gangart oder die Richtung wechseln würde.
Vielleicht hast du gelernt, ungefragtes Verhalten als Ungehorsam anzusehen. Du kannst es aber ebenso als Vorschlag deines Pferdes interpretieren, der gleichwertig neben deinen Ideen beachtet werden darf 🌿.
Fallstrick 5: Bist du unsicher?
Macht es dir Druck, dass Freiarbeit vor allem aus energetischer Bewegung in höheren Gangarten zu bestehen scheint?
Falls ja, bist du damit nicht allein ❤️.
Wenn es in der Freiarbeit mit Nathan allzu wild wird, fühle ich mich manchmal auch nicht mehr wohl (und leite wieder eine ruhigere Interaktion ein). Die Angst vor dem eigenen Pferd ist verbreiteter, als du vielleicht denkst. Und sie will und sollte gehört werden.
Über die Botschaften der Angst habe ich hier geschrieben:
Drei gute Seiten an der Angst vor dem Pferd, über die niemand spricht
Vielleicht hilft dir dieser Beitrag dabei, Freundschaft mit deiner Angst zu schließen, statt gegen sie anzukämpfen.
Wenn du dich im Trab und Galopp neben deinem freien Pferd unwohl fühlst, wenn du nicht magst, wenn es buckelt oder steigt, ist das vollkommen okay. Freiarbeit kann auch ganz geerdet, ruhig und in langsamer Bewegung ablaufen.
Nimm deine Unsicherheit ernst. Lass den Anspruch los, trotz deiner Angst die Freiarbeit mit deinem Pferd energetisch zu gestalten.
Wenn du diese Angst unterdrückst und dein Pferd voll Unsicherheit aufforderst, sich schneller, größer und agiler zu bewegen wird es deine Anspannung wahrnehmen. Und wahrscheinlich selbst mit Anspannung reagieren – es weiß ja nicht, wovor du dich fürchtest ⚡️.
Dadurch können tatsächlich gefährliche Situationen entstehen – die dich in wiederum in deiner Angst bestätigen. Ein Teufelskreis.
👉 Schaffe stattdessen erst die Voraussetzungen, die du brauchst, um dich schließlich auch in höheren Gangarten in der Freiarbeit sicher zu fühlen. Und wenn das länger dauert oder nie der Fall ist, ist auch das okay.
Fazit – Ein neues Ziel für die Freiarbeit
All diese Punkte laufen auf eines hinaus:
Die Freiarbeit mit deinem Pferd so zu gestalten, dass sie zu euch passt. Zu euren Vorlieben und Stärken.
Vielleicht hilft es dir gerade zu Beginn, die Freiarbeit nicht zu nutzen, um eure Kommunikation zu verfeinern, Lektionen zu perfektionieren oder dein Pferd zu bewegen. Sondern ganz gezielt, um dein Pferd besser kennenzulernen 🌿.
Was liegt deinem Pferd?
Was macht ihm Freude?
Wodurch wird es eher überfordert?
Durch diese innere Haltung kannst du den Druck rausnehmen. Für euch beide. Denn Freiarbeit muss nicht in erster Linie schön aussehen – sondern eine Bereicherung sein. Für euren Alltag, euer Training, aber vor allem für euer Miteinander in einer Beziehung auf Augenhöhe.
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