Was offensichtlich nichts im Pferdetraining verloren hat: Der Missbrauch der Gerte zum Schlagen von Pferden.
Über die zahlreichen negativen Konsequenzen von Strafe im Pferdetraining berichtet dieser Artikel.
Weit weniger offensichtlich ist der Zusammenhang zwischen Emotionen und dem Werkzeug “Gerte”, wenn diese nicht so direkt zur Strafe eingesetzt wird.
Der Zusammenhang zwischen Gefühlen und Gerteneinsatz wird wenig thematisiert. Doch gerade im sanften Pferdetraining ist ein differenziertes Verständnis davon, was die Gerte im Pferd und auch im Menschen auslösen kann, essentiell.
Der Gebrauch der Gerte sollte wohlüberlegt sein. Was es dabei zu bedenken gibt, wenn wir eine Pferd-Mensch-Beziehung auf Augenhöhe anstreben, schauen wir uns jetzt genauer an.
Beginnen wir mit möglichen Auswirkungen der Gerte auf die Gefühlswelt des Pferdes.
Die Gerte: Ein vergifteter Gegenstand
Für viele Pferde ist die Gerte negativ verknüpft. Sei es, weil die Gerte immer mit besonders anstrengenden und überfordernden Training verknüpft ist (“Dafür brauch ich die Gerte, sonst krieg ich das Pferd nicht mehr vorwärts”) oder weil dem Pferd mit der Gerte Schmerzen zugefügt wurden. Sitzt das Timing nicht oder versäumt man es, den Druck im richtigen Moment wieder nachzulassen, ist Stress die Folge. Dadurch entwickelt das Pferd eine Abneigung gegenüber dem Gerteneinsatz.
Durch den ungeschickten Einsatz der Gerte kann es zur Desensibilisierung kommen. Dabei reagiert das Pferd nicht mehr auf den unangenehmen Reiz der Gerte – es gewöhnt sich daran. Trotz allem ist das Wedeln, Klopfen, Tippen oder auch Schlagen für das Pferd weiterhin unangenehm!
Um dem Gefühl zu entgehen, fliehen manche Pferde in die Dissoziation – dabei entkoppelt das Pferd sich von seinem Körper. Du hast dann den Eindruck, mit der Gerte nicht mehr “durchzukommen” – mehr zur Dissoziation erfährst du hier: Dissoziation im Pferdetraining
Andere Pferde fangen an, sich gegen die Gerte zu wehren. Das kann so weit führen, dass sie den Menschen, der die Gerte hält, angreifen oder ausschlagen.
Ist die Gerte derart vergiftet, ist sie erstmal unbrauchbar für einen sanften und pferdefreundlichen Umgang.
Warum? Weil du nicht sanft mit deinem Pferd umgehen kannst, wenn es durch die Gerte Stress bekommt.
Außerdem ist die Fähigkeit zu Lernen unter Stress erheblich eingeschränkt.
Wenn dein Pferd Angst vor der Gerte hat, wenn es Abwehrverhalten zeigt oder wenn es der Gerte gegenüber abgestumpft ist, besteht eine Verknüpfung von unangenehmen Empfindungen mit der Gerte.
Diese Verknüpfung musst du verändern, wenn du die Gerte im sanften Pferdetraining einsetzen möchtest. Das ist jedoch nicht deine einzige Aufgabe.
Denn auch du assoziierst wahrscheinlich Handlungen, Erfahrungen und vor allem Emotionen mit der Gerte, die für einen sanften, gewaltfreien Umgang hinderlich sind.
Die Geister, die ich rief
Die Bodenarbeit ist für viele Pferdemenschen deutlich schwieriger als Reiten. Zum einen gibt es für Bodenarbeit weit weniger gute Lernangebote und Unterstützung vor Ort, zum anderen lernt man in der Reitschule schließlich Reiten und nicht Bodenarbeit.
Obwohl du ganz gut reiten kannst, hast du in der Bodenarbeit das Gefühl, du wärst so ein richtiger Körperklaus? Vielleicht verlierst du auch ständig die Aufmerksamkeit deines Pferdes und hast das Gefühl, jemand sollte endlich mal einen “Wieso versteht mein Pferd mich nicht”-Buch schreiben.
Dann fehlt es dir wie vielen anderen Reitern wahrscheinlich an Wissen über die Wirkung deiner Körpersprache und vermutlich auch an Körpergefühl. Du weißt nicht, wie du deinen Körper einsetzen musst, damit dein Pferd dich versteht. Und dadurch, dass du deinen Körper nur schwach wahrnimmst, wird die Kommunikation damit noch erschwert.
Das ist es nur zu verlockend, die Gerte zur Hilfe zu nehmen!
Nun soll die Gerte fehlendes Wissen, Körpersprache und Können kompensieren.
Schließlich ist es einfacher, dem Pferd zu vermitteln, dass es die widersprüchliche Körpersprache ignorieren soll, wenn ein stärkerer Reiz (das Wedeln oder Klopfen der Gerte) es gerade deutlich mehr belästigt.
Manche Pferde machen hier bereits brav mit. Sie unterdrücken ihren natürlichen Impuls die Körpersprache des Menschen zu interpretieren. Sie stumpfen gegen die Körpersprache ab, statt fein auf die Signale des Menschen zu reagieren.
Was hat das fehlendes körpersprachliches Können mit Emotionen beim Gerteneinsatz zu tun?
Emotional wird es, wenn das Pferd TROTZ Gerteneinsatz standhaft bleibt und antwortet: “Die Körpersprache macht so keinen Sinn!”. In diesem Moment fängt der Missbrauch der Gerte an. Das Nein des Pferdes wird durch ein laut zischendes oder schmerzhaftes “Doch!” der Gerte übergangen.
Emotionen der Familie Wut, Frust und Ärger aber auch Scham spielen dabei eine wichtige Rolle.
Hierzu möchte ich ein Zitat der Trainerin Dörte Bialluch anbringen:
“Die Gerte verstärkt immer das, was bereits da ist.”
Wenn wir diesen Satz mal nicht auf die Bewegungsqualität des Pferdes, sondern auf die Emotionen des Menschen anwenden, dann verdeutlicht er folgendes Muster:
Überkommt den Menschen ein Anflug von Frust, kann dieser durch Zugriff auf das Machtmittel “Gerte” schnell in Wut umschlagen. Die Scham, die man über das Nicht-funktionieren einer Aufgabe empfindet, kann durch die Gerte in Ärger dem Pferd gegenüber verstärkt und ausgelebt werden.
Das eigene Verhalten gerät außer Kontrolle.
Das Zitat ist ein Gedankenspiel, eine Idee, das ich dir mit auf den Weg geben möchte. Keine Regel und kein erforschtes Konzept. Jedoch zeigt es auf, was ich an mir selbst und auch bei anderen Menschen beobachten konnte:
Geraten wir emotional aus der Fassung, sollten wir keine scharfen Werkzeuge an der Hand haben.
Das geht sonst fürchterlich ins Auge und wird die Pferd-Mensch-Beziehung nachhaltig negativ beeinflussen
Negative Emotionen von der Gerte abkoppeln
Wir halten also fest: Die Gerte kann zum einen für das Pferd vergiftet sein (aufgrund schlechter Erfahrungen) und zum anderen für den Menschen zum Verstärker von Emotionen werden, die wir nicht am Pferd ausleben wollen. (*Wichtig: Ausleben ist etwas anderes als Fühlen! Es geht nicht ums Unterdrücken, sondern um unkontrolliertes Handeln).
Wie werden wir diese Kopplung negativer Emotionen und der Gerte also wieder los?
Das Verständnis der eigenen Konzepte bezüglich des Verhaltens des Pferdes ist entscheidend. Schaffen wir es, unser mentales Konzept weg von “Das Pferd ist ungehorsam! Jemand muss sich ihm gegenüber durchsetzen, sonst wird es gefährlich” hin zu “Das Pferd hat vermutlich einen guten Grund sich zu verweigern und durch einfach draufklopfen wird dieser nicht weggehen” zu verändern, dann haben wir erst eine reelle Chance, die Gerte auf eine neue Art und Weise ins Training zu integrieren.
Vor dieser Bewusstseinsstufe wird die Gerte potenziell immer zu einem Instrument des Machtmissbrauchs!
Ist dieser Schritt getan, sollten wir über praktische Lösungsansätze nachdenken. Hier ist es wichtig, dass wir den Gedanken der “Gerte als Verstärker dessen, was bereits da ist” stets im Hinterkopf behalten. Denn dieser Satz sagt uns, worauf es ankommt:
Wir müssen eine neue Grundlage schaffen.
Erst auf dieser Grundlage basierend sollten wir das potenzielle Machtmittel Gerte hinzunehmen.
Haben wir ein Sein mit unserem Pferd aufgebaut, in dem die Bedürfnisse beider Seiten gesehen und geachtet werden, dann wird auch das Hinzunehmen der Gerte bereichernd sein können (z.B. indem die Gerte zum Fokuslenker, Hilfengeber und Aufgabenerklärer wird).
Haben wir Leichtigkeit, Freude und Spaß in unserer eigenen Emotionswelt, dann kann die Gerte auch dieses Zustände verstärken – durch den bewussten, dosierten und sanften Einsatz dem Pferd gegenüber.
Im Umkehrschluss sollten wir so verantwortungsvoll sein und die Gerte im Schrank liegen lassen, wir diese Grundlage verlieren oder noch gar nicht aufgebaut haben.
Ja, ein Werkzeug ist immer nur so scharf wie der Anwender. Deshalb ist es auch so wichtig, dass der Anwender seine emotionale Verfassung genauestens prüft.
Am Pferd lautet die Sofortmaßnahme “Gerte weglegen”. Abseits vom Pferd bedeutet es, sich mit den eigenen Überzeugungen, Glaubenssätzen und Erwartungen zu beschäftigen und kritisch zu beleuchten, warum es am Pferd immer wieder zu Frust, Scham oder Wut kommt.
Wir müssen uns nicht schämen, diese Gefühle zu fühlen – sie sind Teil des Systems, in das wir hineinsozialisiert werden. Dennoch sind wir selbst dafür verantwortlich, ob wir diese Muster wirklich ein Leben lang beibehalten wollen.
Wir können lernen, diesen Gefühlen mit Sanftheit zu begegnen. Der Wut mit Klarheit. Dem Ärger mit Gelassenheit und dem Frust mit Humor. All das ist ein Prozess, der seine Zeit dauert, letztendlich aber unumgänglich ist, wenn wir uns ein sanftes Sein mit dem Pferd wünschen.
Die Aufgabe besteht also darin, die Grundlagen der Beziehung zum Pferd zu prüfen und gleichzeitig in die eigene emotionale Reife und persönlich Entwicklung zu investieren. Erst wenn die Pferd-Mensch Beziehung hierin gefestigt ist, kann die Gerte umkonditioniert (“neutralisiert”) werden.
Wie der Beziehungsaufbau mit dem Pferd funktioniert, in welcher der vier Phasen ihr gerade seid und was du konkret tun kannst, um in die nächste Phase zu gelangen, erfährst du hier: Kostenloster Mini-Kurs: Pferd-Mensch-Beziehung
Fazit
Teilweise weckt die Gerte, vor allem aber verstärkt sie die Emotionen bei Pferd UND Mensch.
Daher lautet das große Takeaway heute: Emotionale Reife.
Es ist wichtig, dass wir uns selbst beim Einsatz von potenziell beziehungsschädigenden Werkzeugen zügeln können, wenn wir merken, dass uns die emotionale Reife oder Impulskontrolle fehlen.
Ein abgebrochen Aufgabe kann an dieser Stelle mehr für die Pferd-Mensch-Beziehung tun, als das sprichwörtliche “sich da durchprügeln”.
Was es weitergehend braucht, damit du deine Emotionen tatsächlich nachhaltig verändern und nicht nur regulieren kannst, zeigt dir dieser Artikel: Wie du deine Emotionen wirklich veränderst, statt sie nur zu regulieren.
Wir müssen stattdessen eine sanfte Grundlagen in der Beziehung zum Pferd aufbauen, Bedürfnisse achten, eine positive und stressarme Lernerfahrung für das Pferd erschaffen und in unsere emotionale Reife investieren.
Dann kann auch ein möglicherweise scharfes Werkzeug wie die Gerte eine Ergänzung und Bereicherung im sanften Pferdetraining sein.
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