Ohne das Verwahren ist die Arbeit mit unseren Pferden vom Boden und vom Sattel aus nicht nur schwierig, sondern sogar unnötig kompliziert. Was „ein Pferd verwahren“ überhaupt bedeutet und wie es aussehen kann, zeigt dieser Artikel.
“Es ist nicht interessant, WAS man tut. Interessant ist, WIE man es tut.”
Dörte Bialluch Vaz Pinto.
Lange bevor wir mit unserer Reise in die Welt der akademischen Reitkunst angefangen haben, hatten wir noch ganz andere Probleme. Mit einem Pony, das sich kaum mehr als 10 Meter im gemütlichen Schritt bewegen wollte, haben wir unsere ganze Aufmerksamkeit auf eine Frage gerichtet: “Wie bekommen wir dieses Pferd dazu, sich zu bewegen (ohne Einsatz von Strafe und Druck)?”
Es hat uns einige Zeit gekostet, bis wir unseren Weg dorthin gefunden haben. Doch wir waren erfolgreich. Sogar so erfolgreich, dass Nathan uns fortan sämtliche Energie regelrecht um die Ohren warf – wir gingen nicht mehr auf den Platz. Wir galoppierten darauf. Oder stiegen. Oder trabten.
Daraus ergab sich ein neues Problem: Was machen wir nun mit dieser Energie?? Sie lenken zu wollen führte anfangs vor allem dazu, dass Nathan frustriert wurde, denn er sah sich seiner Autonomie beraubt. Schließlich hatte er doch die Ideen und wir sollten ihm bitte folgen…
Eine Zeit lang brauchten wir genau diesen Ansatz, um ihn aus seiner Reserve zu locken. Doch jetzt war die Frage, wie wir den Übergang zu einem fokussierteren Bewegungstraining schaffen können, ohne ihn zu sehr zu frustrieren.
Eine Weile haben wir gebraucht, dann gab es einen ersten Durchbruch und Nathan begann solch eine intensive Freude an unserem neuen Training zu finden, dass wir selbst ein wenig erstaunt waren. Was einer der Schlüssel dazu war, wissen wir heute.
Sich verwahren lassen
Ohne es bewusst zu tun, haben wir angefangen mit Nathan am “Verwahren” zu üben. Was bedeutet das?
Ein Pferd, das sich verwahren lässt, ist im Stande seine Energie bei sich zu behalten.
Das bedeutet also, dass es sie nicht einfach wild dem Menschen entgegenschleudert, so wie Nathan am Anfang unserer Reise zur Bewegung. Oder dass es diese Energie auf andere Weise „rauslässt“, wie beispielsweise durch:
- Gegen den Menschen und die Hand drücken⠀
- Körperteile ausweichen ⠀
- Aus dem Zirkel ausbrechen⠀
- Sich wegdrehen
- Beißen und Ohren anlegen
Zu dem entsprechenden Blogposts geht es hier lang: Hilfe! Mein Pferd legt die Ohren an
Stattdessen darf es lernen und verstehen, dass man nicht nur entweder keine Energie hat oder wenn man welche hat, sie dem Menschen entgegenschleudert – es kann auch energievoll sein und diese Energie in sich selbst bündeln und „sammeln“.
Das hat Verwahren mit Selbstständigkeit zu tun
Verwahren heißt also NICHT das Pferd (mechanisch) zu bremsen. Es geht auch nicht um „langsam“. Ein Pferd kann sich perfekt beim galoppieren, traben, piaffieren, steigen und selbst im Stand verwahren lassen – oder eben auch nicht. Und nur weil das Pferd steht, lässt es sich nicht automatisch verwahren.
Wenn man es anders ausdrücken möchte, könnte man vielleicht sagen, dass das Pferd für sich steht.
Es lehnt sich nicht an den Menschen, es flüchtet sich nicht in die Umwelt oder dissoziiert . Es steht in seinem Körper, den Erdboden fest unter den Hufen und ist bereit in jede Richtung zu agieren.
Wie Nadine von Altklassische Reitschule Nadine Sodemann es einmal so schön ausgedrückt hat: „Stell dir vor, Black Beauty steht dir gegenüber. Der würde sich auch nicht auf dich drauf lümmeln, sondern stolz für sich stehen.“
Das bedeutet, dass das Pferd Herr seiner Energie ist. Es kann sie nutzen für seine Zwecke und wird ihrer nicht beraubt, zum Beispiel aus Angst des Menschen vor der Stärke des Pferdes. Daher hat Verwahren auch nichts mit mechanischer Kontrolle zu tun sondern ist etwas, das das Pferd selbstständig in sich finden und halten können muss.
Die Rolle des Verwahrens in der Gymnastizierung
Besonders in der Gymnastizierung ist es essenziell, dass das Pferd die Fähigkeit zum verwahren entwickelt hat. Denn der erste Meilenstein ist zwar die Fähigkeit, Energie erzeugen können, doch danach müssen wir auch etwas produktives mit dieser Energie machen können. Und genau das sichert das Verwahren.
Warum?
Drückt das Pferd in der Bodenarbeit oder beim Reiten gegen die Hand des Menschen, staucht es sich die Wirbelsäule, die Muskulatur der Oberlinie verkürzt sich und schmerzhafte Nervenreizungen können die Folge sein. Weicht es mit verschiedenen Körperteilen aus, müssen andere Körperteile diese Last kompensieren und können dabei geschädigt werden. Kommt das Pferd ins stürmen, holt es sich mitunter unsanfte Rucke am Kopf und im Nacken ab.
Nicht zu vernachlässigen ist auch der mentale Aspekt: Ein Pferd, das seine Energie nicht kontrollieren kann, ist in der Regel auch mental angespannt und gestresst. Mit einem gestressten Pferd zu arbeiten macht weder Spaß noch besonders viel Sinn, denn ab einem gewissen Stresspegel verschlechtert sich die Lernfähigkeit.
In der Regel macht auch gymnastizierende Hilfengebung erst dann Sinn, wenn das Pferd sich verwahren lässt. Solange das Pferd noch gegen die Hand drückt, kann es zum Beispiel keinen stellenden Impuls wahrnehmen oder eine Schwerpunktverlagerung in der Hinterhand vornehmen.
Das bedeutet also: Um produktiv mit einem Pferd trainieren zu können, sollte zu Anfang jeder Gymnastizierung unbedingt die Fähigkeit zum Verwahren der erzeugten Energie ausgebildet werden.
Wie sieht sich verwahren lassen aus und wie fühlt es sich an?
Eine verwahrende Hilfe kann viele Gestalten haben. Wie immer gilt auch hier der Grundsatz: Was funktioniert, darf genutzt werden. Je nach bisherigen Ausbildungsstand und Feinheit der Kommunikation können verschiedene Intensitäten genutzt werden. Bei uns sieht das Verwahren zum Beispiel so aus:
- die Gerte vor der Brust des Pferdes bewegen und so eine Raumgrenze kennzeichnen (stark)
- eine „sechzehntel Parade“ geben (mehr dazu erfahrt ihr bei Dörte Bialluch) (mittel)
- die Hand dem Pferd entgegenstrecken und so die eigene Grenze abstecken (mittel)
- den eigenen Körper bewusst „sammeln“ und nicht in die Wirbelsäule hängen (leicht)
- sehr bewusst neben dem Pferd gehen und mit jedem Schritt die Verbindung zur Erde wahrnehmen (leicht)
Werde gerne kreativ und entdecke gemeinsam mit deinem Pferd neuartige Wege, wie du ihm das Verwahren erklären kannst! Dein Verwahren muss nicht identisch sein mit unserem. Wichtig ist nur die folgende Botschaft: „Bleib mit deiner Energie bei dir.“
Ein Pferd, das sich verwahren lässt, fühlt sich an wie eine unsichtbares Energiefeld, das mit Leichtigkeit in jede Richtung reagieren und agieren kann. Es sucht zur Hand, aber es drückt nicht dagegen. Als würden zwei Freunde sich an den Händen nehmen und gemeinsam den Weg gehen. Das Lächeln auf den Lippen entsteht dann übrigens auch ganz von allein…
Wenn du also das nächste Mal eines der oben genannten Probleme hast (Pferd weicht aus, drängelt, stürmt los…), dann prüfe einmal ob du bereits bewusst am Verwahren geübt hast. Und wenn nicht, hast du nun eine spannende Aufgabe. Ich wünsche dir viel Spaß dabei!
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2 Comments
Wieder spannende Gedanken zu dem Thema. Vorallem liebe ich euren anderen Ansatz. Mit Parcival habe ich das gerade nicht als Thema und auch bei Pina haben wir eher zu wenig wie zuviel Energie, aber bei Nelly ist das ein Thema auf das ich mal meinen Fokus legen sollte.
Liebe Grüße
Miriam
Danke für deine lieben Worte und viel Spaß beim Ausprobieren :)!