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Malen nach Zahlen oder Reitkunst? Über Lektionen und die Erlaubnis, sie loszulassen

 
Ich weiß, ich weiß. Du möchtest für dein Pferd nur das Beste – und daher bin ich mir zu fast 100% sicher, dass du schon einmal in Google nach „Übungen für [beliebigen Zweck]“ gesucht hast. Einfach mal eine klare Aufgabe mit detaillierten Anweisungen, die du nur noch mit deinem Pferd umsetzen musst – quasi Gesundheit auf Garantie.

Diesen Wunsch, endlich mal etwas EINFACHES zu lernen, das dir den Erfolg garantiert, kann ich nachfühlen. Dass man sich alleine fühlt mit den Gedanken und Zweifeln, die man sich als sensibler Pferdemensch andauernd macht. Da ist es nur verständlich, dass du dir eine klare Anleitung in Form einer Übung wünschst, die du im Idealfall auch ganz allein hinbekommen kannst.

Denn du möchtest deinem Pferd mit den richtigen Übungen helfen, eine gleichmäßig entwickelte, gesunde Muskulatur zu bekommen, seine Balance schulen, ihm ein besseres Körpergefühl schenken und dazu legst du wahrscheinlich dein Augenmerk auf die Tragfähigkeit – denn die Trageerschöpfung ist ja mittlerweile auch in fast aller Munde.

Kurzum: Du möchtest dein Pferd gesunderhaltend gymnastizieren.

Leider gibt es ein Problem.

Der Wunsch nach einer einfachen Übung mit Schritt-für-Schritt Anleitung plus Wirkgarantie in Kombination mit dem Anspruch, dein Pferd sinnvoll zu gymnastizieren, wird selten in Erfüllung gehen.

Warum das so ist und wie dein Pferd durch eine neue Perspektive (fernab von klassischen gymnastizierenden Übungen) auf die Reitkunst ganz konkret profitieren kann, das zeige ich dir in diesem Artikel.
 
 

Ein Verhältnis von 1:100 – warum es alles kompliziert macht

Das Problem mit all den gymnastizierenden Übungen besteht darin, dass wir nur eine gewisse Summe X an definierten (und leicht zugänglichen) Übungen haben. Solche wie:

  • Rückwärts bergauf gehen
  • antouchiertes geschlossenes Stehen
  • Seitengänge
  • Übertreten
  • den „Tröpfchenschritt“
  • Übergänge
  • über Stangen gehen…

Diese Übungen stehen einer Summe Y an Bewegungsproblemen entgegen:

  • fehlende Schulterbalance
  • übermäßige Schubkraft (hier kannst du mehr dazu lesen)
  • ungleiche Kraftentwicklung der Hinterbeine
  • fehlende Beugsamkeit von Gelenken
  • weiches Bindegewebe
  • lange Rücken
  • kurze Hälse
  • unsaubere Grundgangarten…

Diese Bewegungsprobleme treten nicht einzeln und auch selten paarweise auf – sondern in Gruppen! Bewegungsprobleme, die sich gegenseitig anstacheln, verbünden und im Verlauf des Pferdelebens immer wieder neue Mitglieder einladen – bevor sie sich durch wirksame Gymnastizierung nach und nach auflösen.

Wenn ich schätzen müsste, würde ich sagen, das Verhältnis von klar definierten Übungen zu realen Bewegungsproblemen liegt irgendwo bei 1:100.
 

Auf eine Übung kommen 100 Bewegungsprobleme.

 
Jetzt das große Problem: Wenn du nicht erkennst, ob die gewählte Übung hilft, kann es sein, dass diese Übung zum Auslöser für 100 neue Bewegungsprobleme wird 🙈!
 


Wir haben schon in diesem Artikel 4 gute Gründe beschrieben, warum du aufhören solltest, nach Schritt-für-Schritt Anleitungen zu suchen, wenn du den sanften Weg mit deinem Pferd gehen möchtest. Lies hier nach.


 
 

Die faule Lösung

Es kann also eine Menge schief gehen, wenn wir unbedacht einfach drauf los üben. Leider kursiert jedoch mancherorts die Ansicht, dass Gymnastizierung eine einfache Gleichung sei.

Übung + Werkzeug = Gymnastizierung.

Doch ein Kappzaum und ein wenig Beine seitlich schicken allein reicht leider nicht – im schlimmsten Fall zahlen die Pferde den Preis für unbedacht angewandte Übungen.

Es wird versucht das 1:100 Verhältnis mit einer faulen Malen-nach-Zahlen Lösung bewältigbar zu machen.

Die „Branche“ (also Blogs wie unserer, Kurse zum selbst lernen etc.) rund um die Gymnastizierung tut sich ebenfalls leichter mit dieser Gleichung. Denn „30 tolle Übungen für den Rücken“ klingt doch deutlich besser als „investiere 30 Jahre deines Lebens Blickschulung und Ausbildung“ (lies das bitte mit einem Augenzwinkern 😉).

Wer möchte schon immer dieselbe Aussage hören (sei sie auch noch so verantwortungsvoll und richtig): „Kommt ganz auf dich und dein Pferd an. Aus der Ferne kann ich das so pauschal nicht beantworten.“ Laaaangweilig. Nächster bitte.

Nicht ohne Grund konnten sich sogenannte Trainingshilfen wie Ausbinder, Longierbänder oder Sperrriemen durchsetzen – nicht in erster Linie weil sie so „gut“ sind, sondern weil sie den Menschen eine pauschalisierte, einfache Lösung und das Gefühl geben, das Richtige zu tun.

Die vermehrte Verlegung des Ratsuchens in die digitale Welt macht es auch immer schwieriger für Trainer, individualisierte Ratschläge zu geben. Denn die Nachfrage nach pauschalisierten Tipps wächst- schließlich möchte jede:r etwas lernen und zwar hier und jetzt, in diesem Blogartikel oder Video. Nicht erst, nachdem ein bezahltes Angebot in Anspruch genommen wurde.
 

Daher fällt letztendlich die Verantwortlichkeit zurück auf diejenigen, die im Internet nach Rat suchen – und diese Nachfrage erzeugen.

 
Sie sollten die Auswahl eines Trainingsratschlages mit dem Bewusstsein treffen, dass die meisten Trainer ihr bestes geben, ein so komplexes Thema wie Gymnastizierung für die breite Masse zugänglich zu machen. Und dass dadurch eben teilweise entscheidende Details untergehen.

Die unbeliebte Erkenntnis lautet:

„Es gibt keine Übung, die du einfach nachmachen kannst und mit der du garantiert richtig liegst“.
 
 

Daran darfst du dich in Zukunft festhalten

Hast du jetzt also nur die Möglichkeit, für jeden kleinen Tipp jemanden bezahlen zu müssen?

By the way: Wissen darf jedem zugänglich sein! Auch wir teilen es freigiebig. Wir lassen uns nicht für unser Wissen bezahlen, sondern für unsere Erfahrung, unsere eigenen Konzepte und die individualisierte Abstimmung eines Vorgehens auf DEINEN Fall – erkennst du den Unterschied?

Oder fürchtest du Jahrzehnte lang irgendwelche hochtrabenden, unverständlichen Reitkunstmeister studieren zu müssen, um deinem Pferd irgendwann würdig zu werden?

Ich halte weder noch für richtig. Lass mich dir dazu eine Geschichte erzählen.

Es gibt etwas, das sich tief in mein Gehirn aus 2020 eingegraben hat. Zu dieser Zeit waren wir mitten in unserem Praktikum im schönen Alentejo, an der Westküste Portugals. Auf der Anlage der erfahrenen lizensierten Bent Branderup Trainerin Dörte Bialluch (zu Dörte’s Website). Es muss irgendwann in der ersten Woche gewesen sein, als ich auf dem Reitplatz mit Meerblick stand, immer noch verunsichert darüber, was ich da gerade mit meinem Lehrpferd tat.

Dörte sagte zu mir: „Leg mal einfach die Hand an ihren Hals.“ Ich tat es. Strich behutsam über das weiche Fell. Die Stute lies ihren Hals fallen, schloss sanft ihre Augen. Sie seufzte tief. Dörte rief mir über die steife Meeresbrise hinweg zu: „Jetzt hast du ihren Hals gymnastiziert – so kann sie gleich überhaupt erst deine Hilfen annehmen. Die Oberlinie aufdehnen. Und dadurch schlussendlich besser atmen.“

Ich war total baff. Mit einem simplen Abstreichen hatte ich also das gesamte Training vorbereitet und die Stute noch dazu in einen besseren körperlichen Zustand versetzt?
 
 

100:1 – Dieser Perspektivwechsel wird dich befreien

Das macht für mich bis heute den großen Unterschied zwischen den pauschalen Malen-nach-Zahlen Übungen und der Reitkunst aus. Denn während manche in der Reitkunst an ihren Terre-à-Terres tüfteln, gibt es Menschen (wie uns), die sich mit ihrem Waldundwiesen Haflinger den Ast abfreuen, wenn er einen taktklaren Schritt zeigt.

Das ist GENAUSO „Reitkunst“, wie die vollendste Lektion in Versammlung.

Das alles zählt und macht einen Unterschied:

  • saubere Grundgangarten
  • gerades, planes Auffussen von Gliedmaßen
  • Schulterbalance
  • Dehnen von verspannter Muskulatur
  • Selbsthaltung

Wir sind uns in der Reitkunst darüber bewusst, dass Gymnastizierung schon mit der korrekten Stellung beginnt. (hier mehr dazu). Mit dem ersten Dehnen des Halses. Mit einem Kauen. Dass wir schon durch das richtige Führen das Pferd in Balance bringen können. Dass wir durch das bewusst machen von Kräften (hier mehr dazu), den bedachten Gebrauch von Werkzeugen und eine gute Körpersprache aktiven Tierschutz betreiben.
 

Ja, schon durch das Weglassen von missbräuchlichen Werkzeugen tun wir dem Pferd so viel Gutes.

 
Es sind keine „Übungen“ im klassischen Sinne. Die Pferd müssen dafür nicht auf dem Zirkel kreiseln, Beine kreuzen oder ihren Kopf auf bestimmte Weise tragen. Stattdessen freuen wir uns, wenn wir ein Bewegungsproblem finden. Denn das bedeutet, dass wir 100 Möglichkeiten ausprobieren können, es zu lösen. Angefangen beim ermutigend Zusprechen, beim Ausrichten der Körpersprache oder dem sanften Abstreichen von verspannter Muskulatur.

Mit Inhalten, die einen Selbstzweck erfüllen. Weil sie IN SICH wertvoll sind. Im Gegensatz zu Übungen, die lediglich ein Werkzeug darstellen.
 

Wir drehen das Prinzip um: 1 Problem zu 100 Lösungsmöglichkeiten.

 
Wir müssen uns nicht abhängig davon machen, dass andere unser Training sehen und uns wohlwollend zunicken, weil sie denken: „So gymnastiziert man richtig!“. Nein, wir dürfen uns bewusst werden, dass wir mit jedem noch so kleinen Baustein bereits mehr Reitkunst praktizieren, als so mancher Lektionenfan das glauben mag.

Erkenne an, dass Gymnastizierung schon viel früher anfängt, als es dir manchmal verkauft wird.

Das macht vieles leichter, denn du beginnst, nach all dein kleinen Dingen zu suchen, die du schon jetzt und heute tun kannst, um das Wohlbefinden deines Pferdes zu verbessern. Und das kann schon ein sanftes Abstreichen des Halses sein. Oder ein locker geschnallter Kappzaum. Oder eine größere Linie, auf der dein Pferd seine Balance besser halten kann.

Wir haben erst kürzlich eine neue Schülerin in unseren Unterricht aufgenommen, der wir in der ersten Einheit zunächst einige Hilfsmittel und Übungen weggenommen haben, die ihrer Stute mit Fehlstellung in der Vorhand eher geschadet als genützt haben. Stattdessen haben wir mit ihr ein locker vorwärts schwingendes Gangbild mit gedehntem Hals, gerade fußenden Gliedmaßen auf großen Linien für die nächste Zeit erarbeitet.

Ihre Aussage am Ende der Einheit bringt den Artikel auf den Punkt: „Wow! Mein Pferd darf also einfach laufen!

Ja, manchmal ist einfach nur laufen dürfen die beste Übung für den Rücken, die Hinterhand, die Vorhand – und eigentlich das ganze Pferd.
 

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