„Ich glaube, sie ist eine der wenigen Menschen, die Nathan wirklich mögen“
, sage ich zu Jana als Bärchens Huforthopädin* schon einige Zeit weg ist.
Ich sage das mit dem Erstaunen, das zuverlässig mit neuen, wichtigen Erkenntnissen einhergeht. Mit den Momenten, in denen das unsichtbar Offensichtliche plötzlich sichtbar wird.
Es gibt wenige Menschen, die Nathan kennenlernen, mit ihm Umgang haben und ihn in seinem Wesen wirklich wirklich mögen. Er verzaubert nicht. Und jetzt gerade wird uns beiden klar, was er stattdessen tut:
Er triggert.
Nathan ist keines dieser Pferde, von deren Charakter geschwärmt wird.
Ich glaube, ich habe noch nie jemanden über ihn sagen hören, er wäre so süß, oder sanftmütig, oder hätte eine besonders angenehme oder einnehmende Ausstrahlung.
Nathan lebt wirklich sein schönstes Leben“, hat Marie** letztens gesagt und damit den Kern der Ursache, weshalb Nathan nicht der größte Sympathieträger ist, auf den Punkt getroffen.
Er lebt kompromisslos sein schönstes Leben. Er weiß, was er will und wenn man ihn lässt, tut er, was er will (und nichts anderes). Er hat schlechte Laune, er hat gute Laune, so wie es ihm passt. Und er ist immer, ohne sich dafür zu entschuldigen (!) – er selbst.
Er will nicht gefallen. Er will SEIN schönstes Leben leben.
Und das gefällt uns nicht. Im Allgemeinen gefällt uns Menschen das nicht.
Ich frage mich, weshalb das so ist: Warum ist es so schwer für uns, eigensinnige, clevere, starke Pferdepersönlichkeiten zu schätzen, während uns die Bewunderung und Anerkennung für die Pferde so leicht fällt, die allein zu leben scheinen, um dem Menschen zu dienen. Warum fällt es uns leichter, Zuneigung für ein Wesen zu empfinden, das sich selbst aufgegeben hat, als für eines, das voll und ganz zu sich selbst – zu seinen Bedürfnissen, Wünschen, seiner Stärke und seiner inneren Weisheit – steht.
Niemand mag Ronaldo***. Das ist jedenfalls in meiner Familie so. Wir können sein stolzes Getue nicht ab. Wir ertragen den Anblick, wie er sich vor seinem nächsten, todsicheren 11 Meter aufbaut und darstellt nicht ohne dass uns die Haut vor Genervtsein zu jucken anfängt.
Und kollektiv betrachtet mögen wir die Ronaldos unter den Pferden noch viel weniger. Die Pferde, die wissen, was sie können. Die sich nicht einschüchtern lassen von dem, was wir für richtig halten. Ihr Blick auf uns erscheint uns fast mitleidig. Als würden sie sagen: „Du bist so töricht. Sie hin, denn ich weiß, wie man wirklich lebt.“ – und das macht uns rasend.
Weil wir uns selbst nicht das kleinste bisschen dieser „Dreistigkeit“ erlauben. Weil wir uns doch nicht einfach so herausnehmen können, zu tun, was wir wollen. Weil wir uns in Käfige haben sperren lassen – und obwohl wir die Schlüssel längst in der Hand halten, bleiben wir lieber in unseren Käfigen.
Hier MAG man uns. Hier sind wir akzeptiert. Hier gehören wir dazu.
Aber vielleicht ist gemocht werden gar nicht das, was wir wollen „sollten“. Vielleicht ist es manchmal ein besseres Zeichen, verstoßen, für verrückt erklärt, abtrünnig zu sein.
Weil es vielleicht wichtiger ist, sein EIGENES schönstes Leben zu leben. Ohne sich dafür zu entschuldigen.
Nathan zu mögen erfordert, dass man den eigenen Käfig sieht – und den Schlüssel zumindest in der eigenen Hand liegen spürt. Zu wissen, dass es nicht richtig ist, sich selbst klein zu halten, sich fremden Regeln dazu zu unterwerfen, wie ein guter Mensch zu sein hat (fleissig, ordentlich, zuverlässig bis zum Burnout), sondern nur eine Option von vielen. Zu wissen und zu einem gewissen Grad zu spüren, dass es eine Freiheit gibt, die darin besteht, sich für sich selbst zu entscheiden, auch wenn das gegen die Regeln der anderen ist. Gerade dann.
Nathan zu mögen bedeutet zu erkennen, dass man sich selbst geschrumpft hat, um hineinzupassen in eine Welt, die uns als klein verkauft wurde, die aber in Wirklichkeit groß genug ist, um es mit unserem ganzen Sein aufnehmen zu können.
Nathan zu mögen bedeutet zu erkennen, dass Stärke nicht bedeutet, andere kontrollieren zu können. Dass Liebe nicht bedeutet, von anderen gemocht zu werden. Dass Stolz nicht bedeutet, von anderen Anerkennung zu erfahren. Dass Gerechtigkeit nicht bedeutet, es allen anderen recht zu machen. Dass Demut nicht bedeutet, bescheiden zu sein und sich selbst zu verleugnen.
Es bedeutet zumindest im innersten Kern zu ahnen, dass wir nichts leisten müssen, um uns dieses schöne Leben zu verdienen.
Es bedeutet, zu erkennen, dass wir an erster Stelle uns selbst – unserem eigenen innersten Urteil – vertrauen dürfen.
Als ich bei der WM dieses Jahr Ronaldo dabei beobachtete, wie er sich mal wieder in seine Pose warf, zur vollen Größe aufbaute, die Schultern gestrafft, der Blick fokussiert, voller unverschämter Selbstsicherheit, da hatte ich plötzlich einen neuen Gedanken: Dass mir dieser Mensch, in diesem Moment, sympathisch ist. Nicht, obwohl er sein Selbstvertrauen so offen zur Schau stellt, dass es zumindest etwas over the top erscheint – sondern genau darum. Weil er einen Sch*** drauf gibt, ob das sympathisch erscheint oder eingebildet rüberkommt.
Einen kleinen Moment kam ich mir ein bisschen verrückt vor. Als wäre ich aus mir selbst herausgetreten und plötzlich eine andere geworden. Als hätte man mir neue Augen gegeben, die dasselbe und doch etwas ganz anderes sehen als zuvor.
Dann wurde mir klar, dass ich still und langsam begonnen hatte, dasselbe für mich zu beanspruchen. Dazu zu stehen, dass es Dinge gibt, die ich verdammt gut kann. Mir zu erlauben, das zu tun, was ICH will und mich dafür nicht zu entschuldigen. Mich nicht länger dafür zu rechtfertigen, dass ich weiß, was ich will und meinem Weg zu folgen, egal ob andere das gut oder anstößig finden.
Wenn ich aufhöre, Dinge zu tun, nur um es anderen recht zu machen, dann befreie ich damit nicht nur mich selbst. Ich gebe auch anderen die Erlaubnis, damit aufzuhören, Dinge zu tun, nur um es mir recht zu machen.
Wir hören dadurch nicht auf, gut zu sein. Wir erschaffen lediglich unsere eigene Definition davon, was es bedeutet, gut zu sein.
*Julia Weller ist Nathans Huforthopädin und wir sind so so dankbar, sie nicht nur mit ihrer ausgezeichneten Arbeit, sondern auch für ihren liebevollen Umgang mit dem Bären an unserer Seite zu haben. Wer mehr über ihre Arbeit erfahren möchte, schaut hier: www.wholihorse.com oder hört in den Pferdegedöns-Podcast rein.
**Marie ist eine Freundin und seit Kurzem mit ihrem Charlie bei uns am Stall zuhause. Du findest sie auf Instagram unter @verbunden_sein_mit_pferden.
***Für alle, die nicht den blassesten Schimmer von Fußball haben: Christiano Ronaldo hält den Weltrekord für die meisten Länderspieltore.
Wie hat dir dieser Post gefallen?
5
Schade, dass dir dieser Post nicht gefallen hat.
Hilf uns, unseren Blog zu verbessern.
Was hättest du dir gewünscht? Welche Frage ist unbeantwortet geblieben?