In diesem Artikel gehen wir auf Folgendes ein:
- Was sind Schubkraft und Tragkraft überhaupt?
- Wann wird Schubkraft zum Problem?
- Wieso Tragkraft so wichtig ist
- Woran erkenne ich die Tragkraft?
- Das Ziel der Gymnastizierung + abschließende Gedanken
Ein ganz besonders Dankeschön geht an unsere Wegbegleiterin und Reitlehrerin Nadine, ohne die dieser Artikel niemals so gut geprüft, ausgiebig diskutiert und strukturiert geworden wäre! Wenn ihr euch für extrem lehrreichen und einfühlsamen Unterricht im Solinger Raum nach der altklassischen Reitkunst interessiert, findet ihr ▻ hier mehr Informationen zu ihrer Arbeit.
Was ist Schub- und was ist Tragkraft?
“Wenn der Hinterfuß in den Boden hineindrückt, entsteht eine Kraft, die wir als Schubkraft bezeichnen.”
Bent Branderup, Seite 18. Die Logik hinter den Biegungen.
Vereinfacht können wir Schub also als diejenige Kraft bezeichnen, die auf die Standbeine einwirkt und somit den Pferdekörper vorwärts bewegt (= Akzeleration oder Beschleunigung).
Die Tragkraft ist diejenige Kraft, die bei der Lastaufnahme der Hinterhand entsteht.
Sie ist an der Versammlung und Dezeleration (aktives Ausbremsen/verlangsamen) einer Bewegung beteiligt. Ohne Tragkraft fühlt sich die Bewegung des Pferdes oft „hart“ und „unbequem“ an. Das ist ein Zeichen dafür, dass die Muskeln zu wenig an der Dezeleration teilnehmen und das Pferd vorwiegend in der Schubkraft ist.
Die Tragkraft zeigt sich in der Bewegung am vermehrten Vorgriff des Hinterbeins unter den Schwerpunkt, während der Rückschub durch die Bewegung des Hinterbeins nach hinten aus der Masse heraus sichtbar wird.
Wann kann Schubkraft zum Problem werden?
Wird im Training nur die Schubkraft gefördert und dabei das Gegengewicht – die Tragkraft – außer Acht gelassen, können dem Pferd Probleme entstehen.
Ein stark schiebendes Pferd versetzt seine Oberlinie vermehrt in Spannung – das bedeutet, Rücken und Hals sind überspannt, statt losgelassen an- und abzuspannen. Die Unterlinie (also Bauchmuskulatur und Rumpfträger) hingegen ist als Antagonist in Entspannung und arbeitet somit nicht physiologisch beim Tragen des (Eigen- und Reiter)gewichts mit.
Das bedeutet: Wenn der Rückschub eines Beins stärker als sein Vorgriff ist, dominiert die Schubkraft gegenüber der Tragkraft.
Meist schiebt dabei das sich am Boden befindende Vorderbein weit unter den Bauch zurück und muss dann umso mehr Kräfte auffangen, umso größer die Beschleunigung aus der Hinterhand wird (Kraft = Masse x Beschleunigung).
Dafür ist eine Vorhand aber auf Dauer nicht ausgelegt. Besonders die nicht durch Muskelbäuche geschützten kleinen Gelenke und Sehnen der Vorhand zeigen diese Problematik auf Dauer an.
Bei dominanten Schub ohne entsprechenden Vorgriff des Hinterbeins leidet unter anderem die Vorhand, der Aufschwung des Rückens und das Pferd ist nicht tragfähig.
„Das Pferd tritt so schön unter!“
Es wird oft davon gesprochen, dass die Hinterbeine so stark untertreten sollen, dass der Bodenabdruck der Hinterhand über den Abdruck der Vorhand fußt – als Zeichen für eine „fleißige Hinterhand“. Jedoch geschieht das oft eher deswegen, weil das starke Rückschieben der Vorderbeine unter den Pferdekörper dazu führt, dass die Hinterbeine augenscheinlich über die Vorhand treten.
Ursache ist allerdings nicht, wie gewünscht, der stärkere Vorgriff der Hinterhand – sondern der Rückschub der Vorhand. Das Pferd ist nicht etwa in der Hinterhand aktiv, sondern zieht sich mit der Vorhand nach vorne!
Warum brauchen wir Tragkraft?
Wir brauchen die Tragkraft vor allem, weil unsere Pferde heute nicht mehr natürlich leben und ihr Gebäude züchterisch so verändert wurde, dass das Gleichmaß von Rückschub und Vorgriff verloren gegangen ist.
„Ich kenne kein Wildpferd, das nicht über den Rücken geht“
sagt Bent Branderup gerne auf seinen Seminaren.
Damit spielt er darauf an, dass diese Pferde noch eine funktionale Statik und verschleißarme Bewegungen aufweisen, denn alles andere würde das Wildpferd zur leichten Beute für Raubtiere machen.
Unsere heutigen Pferde hingegen müssen im Stallalltag mit engen Wendungen, Kreislinien und dem Reitergewicht klarkommen – und das alles, während ihre Körper mehr und mehr züchterisch nach Belieben „umdesignt“ werden. Das geht sogar so weit, dass unseren modernen Pferden langsam eine der von der Natur vorgesehen größten Stützen – das Nackenband – verloren geht. (Siehe hierzu: Sharon May Davis)
Ohne das entsprechende Beugen und die Lastaufnahme der Hinterhand, fehlen dem Pferd die Dezelerationskräfte und die Vorhand muss diese Kräfte auffangen.
Nathan bewegt sich hier glücklicherweise nur im Schritt – die Belastung für seine Vorderbeine wäre umso größer, je schneller die Bewegung und je enger der Bewegungsradius.
„Wenn sich das Pferd nicht selbst tragen kann, dann kann es wohl kaum einen Reiter tragen.“
– Bent Branderup
Wenn das Pferd sich also in diesem Bewegungsmuster befindet, können wir ihm viel Gutes tun, indem wir uns mit der Gymnastizierung und Förderung der Tragkraft beschäftigen.
Es ist unserer Aufgabe, die Muskulatur so geschmeidig und kräftig zu machen, dass das Pferd Vorgriff und Rückschub zumindest in ein Gleichmaß bringen und so den schädlichen Verschleiß abpuffern kann.
Woran erkenne ich Tragkraft?
Eine traglastige Bewegung ist gekennzeichnet durch eine längere Phase des Vorgriffs und Verweildauer des Beins unter der Masse mit einer entsprechenden Lastaufnahme.
Ein sehr gut getragenes Vorwärts mit gebeugten Gelenken. Die relative Aufrichtung ist erkennbar.
Beim Vorgriff muss das Pferd seine Gelenkswinkel schließen, um das Bein nach vorne unter den Körper zu bringen und das Gewicht zu tragen.
Hinter den Sitzbeinhöckern des Pferdes befindet sich das Hinterbein nicht mehr unter der Körpermasse. Hier kann daher auch keine Tragkraft mehr aufgebaut werden.
Der tragfähigste Bereich der Hinterbeine befindet sich nahe der Senkrechten.
Was ist das Ziel von Gymnastizierung?
Denken wir mal an ein Pferd, das beim Reiten unter negative Spannung gesetzt wird (sodass der Vorgriff der Hinterbeine verloren geht): Vielleicht ist dir da schon einmal aufgefallen, dass solche Pferde häufig erstmal einige Augenblicke benötigen, um aus einer Lektion wieder in ein lockeres Vorwärts zu finden? Diese Art der Reiterei beflügelt das Pferd nicht, sondern mindert die natürlichen Begabungen.
Daher bedeutet gut durchdachte Gymnastizierung:
Niemals dürfen wir die natürlichen Veranlagungen verschlechtern, sondern wollen diese mindestens erhalten und im Idealfall sogar noch verbessern.
Es sollte stets im Bemühen eines Reiters liegen, dass “nicht nur bei Lektionen in Bewegung sondern sogar auf der Stelle oder im Rückwärts das Bestreben, die Last vorwärts zu bewegen in Wirksamkeit bleibt” (Steinbrecht, Seite 18, Die Logik hinter den Biegungen).
Das bedeutet übersetzt: Egal ob in Versammlung, in der Piaffe oder in einem einfachen Rückwärtsrichten – das Vorgreifen der Hinterbeine unter die Körpermasse, als wichtiger Teil der Grundgangarten, sollte stets erhalten bleiben und mindestens im Gleichmaß zum Rückschub gefördert werden.
Nur so helfen wir unseren Pferde dabei, bessere Pferde zu werden und degradieren sie nicht zu Kunstfiguren.
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